Die britische Aufklärung als Inspiration für eine bessere Zukunft
Die Zeit ist reif für eine zweite Aufklärung, geistig, technologisch und materiell auf jeden Fall, aber leider nicht machtpolitisch und mental. So ähnlich schrieb ich in meiner Ankündigung zu diesem Beitrag und außerdem: Die Aufklärung war ein europäisches Phänomen. Schottland spielte eine bedeutende Rolle: ein kleines Land, international offen – die Elite war viel in Amsterdam und Paris, daneben auch etwas in London präsent, mit (Frei-)Handelsbeziehungen und einer wachsenden Koalition von Denkern, Rednern, Unternehmern und Politikern, die das altes System staatlicher Privilegien und staatlicher Monopole, des ökonomischen Nullsummendenkens und (Um-)Verteilens aufbrachen.
Die nachfolgenden Gedanken drehen sich um die wirtschaftsgeschichtliche Monographie von Joel Mokyr (*1946), einem für den Nobelpreis gehandelten israelisch-amerikanischen Wirtschaftshistoriker der North Western University in Illinois, der sich insbesondere mit der Industrialisierung befasst hat. „The Enlightened Economy“ ist für mich ein treffender Titel:
- Die britische Wirtschaft wurde tatsächlich zunehmend erleuchtet, wenige Menschen klärten viele auf und befreiten sie aus dem Dunkel fürstlicher Herrschaft.
- Joel Mokyr zeichnet in seiner britischen Wirtschaftsgeschichte von 1700-1850 in vielfältigen Perspektiven diesen Aufklärungsprozess nach und versucht zu zeigen, wie die Aufklärung als treibende Kraft wirkte.
- Ich habe die Monographie während einer Reise nach Edinburgh gelesen und konnte vor Ort einige kleine Einblicke gewinnen und meinen Vorstellungen der damaligen Zeit anschaulich freien Lauf lassen.
Zwischenzeitlich bin ich auf eine passende Formulierung gestoßen, die die Aufklärung damals und die Herausforderung einer erneuten Aufklärung auf den Punkt bringt: „Aufklärung ist Ärgernis, wer die Welt erhellt, macht ihren Dreck deutlicher.“
Dieser Aphorismus stammt von Karlheinz Deschner (1924-2014) und waren sein Lebensmotto. Deschner gilt als unbeugsamer Streitschriftsteller und Personifikation eines aufklärerischen Ärgernisses insbesondere als Religionskritiker.
Zurück zu Enlightened Economy.
Ein zusammenfassender Überblick
Joel Mokyrs „The Enlightened Economy: An Economic History of Britain 1700-1850“ bietet eine detaillierte Analyse des wirtschaftlichen Wandels in Großbritannien während der Aufklärung und der frühen industriellen Revolution. Mokyr argumentiert, dass die Aufklärung eine entscheidende Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens spielte, und betont die Auswirkungen von Ideen, technologischen Fortschritten und institutionellen Veränderungen auf das Wirtschaftswachstum.
- Zur Rolle der Aufklärung: Mokyr vertritt die These, dass die Aufklärung für die wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens von grundlegender Bedeutung war. Die Ideale der Aufklärung hätten Rationalität, wissenschaftliche Forschung und eine Kultur, eines allgemeinen Strebens nach Verbesserung gefördert. Diese intellektuellen Veränderungen schufen demnach ein Umfeld, in dem Innovationen gedeihen konnten. Die Verbreitung der Ideen trug dazu bei, traditionelle Barrieren und Widerstände gegen Veränderungen zu überwinden, so dass neue Technologien und Methoden entwickelt und eingeführt werden konnten.
- Technologische und industrielle Fortschritte: Ein wesentlicher Teil des Buches ist technologischen Innovationen gewidmet, die das industrielle Wachstum Großbritanniens vorantrieben. Mokyr erörtert, wie Erfindungen wie die Dampfmaschine, die Spinnmaschine und der elektrische Webstuhl ganze Branchen wie die Textilindustrie, das verarbeitende Gewerbe und das Transportwesen revolutionierten. Diese technologischen Fortschritte waren keine zufälligen Ereignisse, sondern standen in einem engen Zusammenhang mit dem intellektuellen Umfeld der damaligen Zeit. Dazu gehörte die Betonung des empirischen Wissens und des Experimentierens im Zuge der Aufklärung als fruchtbarer Boden für die technischen Durchbrüche.
- Institutionelle Veränderungen und Wirtschaftswachstum: Mokyr unterstreicht die Bedeutung des institutionellen Wandels für die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Wandel hin zu integrativeren und flexibleren Institutionen, einschließlich Änderungen bei den Eigentumsrechten und im Rechtssystem, habe ein günstigeres Umfeld für wirtschaftliche Aktivitäten geschaffen. Diese Institutionen verringerten die Transaktionskosten, schützten das geistige Eigentum und förderten den Unternehmergeist. Mokyr argumentiert, dass ohne diese institutionellen Rahmenbedingungen die technologischen Innovationen dieser Zeit nicht die gleiche transformative Wirkung gehabt hätten.
- Humankapital und Bildung: Das Buch unterstreicht die Bedeutung von Humankapital und Bildung für den wirtschaftlichen Aufstieg Großbritanniens. Die Verbreitung der Alphabetisierung und die Verbesserung des Bildungsniveaus trugen dazu bei, dass mehr qualifizierte Arbeitskräfte heranwuchsen, die mit neuen Technologien und Prozessen umgehen konnten. Mokyr weist darauf hin, dass die Förderung von Wissen und Bildung durch die Aufklärung in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle spielte. Die Betonung der wissenschaftlichen und technischen Ausbildung vermittelte die für die aufblühenden Industrien erforderlichen Fähigkeiten.
- Wissen und Netzwerke: Mokyr behandelt die Rolle von Wissensnetzwerken bei der Verbreitung von Ideen und Technologien. In der untersuchten Zeit entstanden Gesellschaften und Institutionen wie die Royal Society, die den Austausch von wissenschaftlichem und technischem Wissen ermöglichten. Diese Netzwerke verbanden Erfinder, Unternehmer und Wissenschaftler und ermöglichten die schnelle Verbreitung und Übernahme neuer Ideen. Mokyr argumentiert, dass diese Netzwerke entscheidend zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums beitrugen, indem sie dafür sorgten, dass Innovationen auf breiter Basis verbreitet und umgesetzt wurden.
- Marktexpansion und Welthandel: Die Ausweitung der Märkte und des Welthandels ist ein weiteres zentrales Thema in Mokyrs Abhandlung. Großbritanniens Wirtschaftswachstum wurde durch seine Beteiligung am internationalen Handel gefördert, der den Zugang zu neuen Märkten und Ressourcen ermöglichte. Mokyr untersucht, wie Großbritanniens Kolonialreich und seine Dominanz im Seehandel zur wirtschaftlichen Expansion beitrugen. Das Wachstum der globalen Märkte schuf eine Nachfrage nach britischen Gütern und förderte die industrielle Produktion und technologische Innovation.
- Die Rolle der Regierung und der Politik: Mokyr misst der Regierungspolitik zwar Bedeutung zu, vertritt aber die Ansicht, dass der wichtigste Beitrag der Regierung nicht in direkten Eingriffen bestanden habe, sondern in der Gestaltung eines dem Wirtschaftswachstum förderlichen Umfelds durch Förderung der Eigentumsrechte, Schutz des geistigen Eigentums und durch die Infrastrukturentwicklung.
- Soziale und kulturelle Faktoren: Mokyr thematisiert die sozialen und kulturellen Faktoren, die den wirtschaftlichen Wandel Großbritanniens beeinflusst haben. Die Werte und Einstellungen der damaligen Zeit, darunter eine ausgeprägte Arbeitsmoral, der Geist des Unternehmertums und die Bereitschaft, Risiken einzugehen gelten als wesentliche Haltungen für eine prosperierende Wirtschaftstätigkeit. Diese wurzelten wiederum in der Aufklärung und gingen mit einer Aufgeschlossenheit gegenüber Innovation und Fortschritt einher. Ein kultureller Wandel förderte und entsprach einer zunehmend offeneren Gesellschaft, offen für neue Ideen und Veränderungen.
- Wirtschaftsgeschichtliche Kritik an deterministischen Ansichten: Im gesamten Buch kritisiert Mokyr deterministische Sichtweisen der Wirtschaftsgeschichte, die den Aufstieg Großbritanniens ausschließlich auf geografische oder ressourcenbezogene Faktoren zurückführen. Stattdessen hebt er das komplexe Zusammenspiel von Ideen, Institutionen und Humankapital hervor. Damit unterstreicht Mokyr den vielschichtigen Charakter der wirtschaftlichen Transformation.
Im abschließenden 19. Kapitel bietet „The Enlightened Economy“ ein Resümee der Faktoren, die zum wirtschaftlichen Aufstieg Großbritanniens im 18. und frühen 19 beigetragen haben. Mokyr argumentiert mit dem Wert der besseren Ideen, nämlich dass die Aufklärung eine entscheidende Triebkraft des wirtschaftlichen Wandels war und die technologische, institutionelle und kulturelle Landschaft in einer Weise gestaltete, die ein beispielloses Wachstum ermöglichte. Indem er sich auf die Rolle von Ideen und das intellektuelle Klima jener Zeit konzentriert, bietet Mokyr dem Leser eine perspektiven- und detaillierte Darstellung der britischen Wirtschaftsgeschichte, die die Bedeutung von Wissen, Innovation und Humankapital im Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung in den Vordergrund stellt.
Persönliche Beobachtungen und Bewertungen
Erleuchtung klingt natürlicher als Aufklärung. Erstere entwickelte sich zwar als europäisches Phänomen, ein Schwerpunkt lag indes in Schottland, einem kleinen, weltoffenen Land mit Handelsbeziehungen und klugen Menschen. Aufklärung klingt für mich deutsch und etwas autoritär.
Bemerkenswert erscheint mir die evolutionäre Entwicklung, die viele Jahre, Jahrzehnte benötigte. Viele Menschen, heute bekannt und unbekannt, haben einen Beitrag geleistet, haben die befreienden Ideen verbreitet. Der Gigant unter ihnen war der zerstreute Professor in Glasgow und spätere toughe Zollkommissar in Edinburgh. Sein Werk wird in zwei Jahren 250 Jahre alt. Die Rede ist natürlich von Adam Smith (1723-1790) und dem „Wohlstand der Nationen“ (1776), das in einem Atemzug mit seiner Sozialphilosophie genannt werden sollte, der „Theorie der ethischen Gefühle“ (1759). Adam Smith dachte viel nach, war in Gedanken versunken, bereits als junger Mensch. Wir dürfen uns in der schnelllebigen Zeit heute etwas davon abgucken. Infotainment, der endlose globale Strom sensationalistischer Nachrichten macht uns nicht klüger.
Zwar gibt es in Edinburgh vor der großen St. Giles Kathedral ein Denkmal für den Begründer der Wirtschaftswissenschaften, aber sein Grab ist in einem lieblosen Zustand und Touristen werden vor allem Führungen auf der Burg und in den Unterwelten angeboten. Seinem Freund David Hume (1711-1776) ergeht es in seiner Heimatstadt nicht viel besser.
Wie wichtig wäre es heute einmal mehr, die großen Ideen, die von so vielen in Schottland vorbereitet, unterstützt und verbreitet wurden, massenhaft zu popularisieren. Eine herausragende Rolle spielte der Freihandel und natürlich die Marktidee, gestützt von einer politischen Ökonomie von Institutionen, wie Joel Mokyr immer wieder aufzeigt. So gab es glänzende Redner und Lehrer, die Adam Smiths Einsichten verbreiteten, Studenten, die Politiker mit relevanten Ämtern wurden, Publizisten und viele andere mehr. Eine zeitlose Lehre lautet: Der Freihandel ist ein Positiv-Summenspiel, das Gegenteil – der Krieg – teilt Gewinner und Verlierer. (75)
Im Grunde dauerte es 100 Jahre bis das Wachstum die britische Welt und damit die gesamte Welt für immer veränderte, bis weit in das 19. Jahrhundert – so verfünffachte sich das Nationaleinkommen pro Kopf mit einem Wachstum von 2% pro Jahr in der Zeitspanne von 1830-1870 im Vergleich zu 1700-1760. (256) Zugleich war der institutionellen und industriellen Revolution eine relevante Wohlstandsentwicklung der britischen Konsumenten durch neue Güter bereits im 17. Jahrhundert vorausgegangen. (15f., 24)
Ausganspunkt und Problem waren staatlich errichtete Monopole, die es ab 1720 zunehmend weniger gab, Privilegien und Sonderrechte und all das auf der Grundlage eines Umverteilungs-, Aneignungs- und Raubdenkens als Nullsummenspiel. Im Zuge der Aufklärung erhielten die beiden dominanten Akteure eine neue Rolle: Staat und Kirche, politisch und moralisch. Eine laissez-faire Wirtschaft entstand nie – wie auch in Deutschland nicht. England wurde im 18. Jahrhundert schwer besteuert und reguliert (396). Die Infrastruktur war indes privat. Straßen, Häfen, Brücken, Leuchttürme, Verbesserungen der Flüsse, Entwässerungen, Kanäle wurden über private Beiträge finanziert. (381) Verfechter einer (etatistischen) Gemeinwohlthese haben hier einen schweren Stand.
Möglichkeiten und Grenzen rein privater Lösungen lassen sich am Beispiel der Kriminalität nutersuchen. Eine bedeutende Rolle für eine stabile Gesellschaft spielten private, bürgerliche Institutionen: Normen und Sitten, Reputation, das Verhalten als Gentleman und ehrbarer Kaufmann. Zudem wurden private Detektive genutzt. Eine wohltuend wirkende Polizei entstand erst spät, nämlich ab 1830. Wie auf einer Führung in Edinburgh deutlich wurde, konnte es im Einzelfall beidseits rau zugehen. So ließ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Polizist das Feuer auf die Menge eröffnen, die einer Hinrichtung auf dem Marktplatz beiwohnte. Die revanchierte sich später, indem sie den Polizisten lynchte. Die Obrigkeit beließ es dabei.
Ich komme zum Schluss: Dem Buch fehlt eine klare theoretische Fundierung, auch im Sinne unterschiedlicher Theorien für unterschiedliche Themen. Das Axiom lautet: Es gab neue Ideologien und die wurden wirksam. Das wird zwar auf vielfältige Weise illustriert, aber bleibt letztlich der Eindruck haften, es handele sich mehr um eine Korrelation als eine Kausalität. Man darf die Ausführungen sacken lassen und Passagen noch einmal betrachten; erst dann wird deutlich wie sich die Erleuchtung an vielen sichtbaren und unsichtbaren Stellen Bahn brach. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Erkenntnisse von Deirdre McCloskey und ihren bürgerlichen Tugenden eher gestreift werden. Angesichts der Fülle des Materials und einer akademischen Middle of the Ground Position kommentiert der Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr häufig und scheint gelegentlich Strohmänner zu attackieren oder akademische Spezialdebatten zu adressieren. Aus meiner Sicht wird dabei Marktversagen mit unerwünschten Entwicklungen verwechselt, die in Politik und Gesellschaft wurzeln.
Die „Erleuchtung“ war gleichsam eine revolutionäre Evolution – intellektuell, institutionell, ökonomisch (34, 85, 122, 487). Ein Zeitalter des Fortschritts brach an, das vor allem lokal sichtbar war. Bereits im 18. Jahrhundert hatte sich eine Mittelklasse herausgebildet, the middling sort. (15) Die Anfänge des modernen ökonomischen Wachstums, schreibt der Wirtschaftshistoriker Mokyr in seiner Einleitung, hingen zum Großteil davon ab, was die Leute wußten und dachten, und wie sie diese Überzeugungen ihr ökonomisches Verhalten beeinflusste. (1) Und noch einmal anders formuliert: „The essence of the Enlightment’s impact on the economy was the drive to expand the accumulation of useful knowledge and direct it toward practical use.” (10)
Eine zweite Erleuchtung wäre heute dringend erforderlich. Aktuell gilt wohl eher das Motto: Wo Schatten ist, da ist auch Licht.
Joel Mokyr: The Enlightened Economy. An Economic History of Britain 1700-1850, Yale University Press, New Haven, London 2009, 564 S., Taschenbuch 48,12 Euro, Penguin Ausgabe 27,00 Euro.