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von Helmut Krebs
Anarchismus und Liberalismus sind Gesellschaftslehren. Wenn in diesem Essay von den Liberalen oder den Anarchisten die Rede ist, so sind in der Regel damit Idealtypen gemeint, nicht konkrete Personen. Konkrete Menschen hängen immer einem Sammelsurium verschiedener Ideen an. Ihr Handeln kann von den Lehren ihrer Ideologien abweichen.
Anarchismus ist eine Ideologie, die eine Gesellschaft für wünschenswert hält, in der es keinerlei Herrschaft und keinerlei Hierarchie gibt. Die Kritik des Anarchismus an der Herrschaft setzt an den jeweils vorhandenen geschichtlichen Herrschaftsformen an. Der rote Anarchismus eines Proudhon und seiner Nachfolger glaubte in der Marktwirtschaft eine Herrschaft der Ausbeuterklasse über das Proletariat erblicken zu können (Eigentum ist Diebstahl). Der Anarchokapitalismus rückt den Staat an die Stelle der Ausbeuterklasse. In ihm meint er, eine strukturelle Herrschaft über alle Menschen, erblicken zu können (Steuern sind Diebstahl). Beide Strömungen sind wesensverwandt, auch wenn der Anarchokapitalismus sich in der Frage des Eigentums anders positioniert. Dies ist der wesentliche Unterschied.1 Um sich vom kommunistischen Anarchismus abzugrenzen, ächtet er die Erst-Aggression.2 Beide eint die Idee der absoluten Herrschaftsfreiheit.
Eine Epochenwende der Menschheitsgeschichte
Der zentrale Streitpunkt zwischen dem Anarchismus und dem Liberalismus ist die Idee der Legitimität des Staates. Die Macht der Regierung beruht auf der Zustimmung durch die öffentliche Meinung3. Mit dem Begriff der Legitimität ist nichts anderes gemeint, als die Idee, dass die Regierung das Recht hat zu führen und zu entscheiden. Während die Anarchisten monieren, dass der Staat, bzw. die Rechtsordnung auf keiner rechtlichen Grundlage steht, weil weder die aktuellen Bürger noch irgendwelche Vorfahren eine Verfassung aus freiem Willen als Vertrag geschlossen hätten, übersehen sie, dass die Wirksamkeit auf der Macht des Faktischen beruht. Das kann logisch auch nicht anders sein, weil der Akt, der Recht ursprünglich stiften soll, selbst nicht auf Recht fußen kann, also nicht rechtlich sein kann.4 Legitimation manifestiert sich informell und zeremoniell. Die Zustimmung, bzw. die Legitimierung geschieht permanent durch das gesellschaftliche Leben selbst. Sie ist tradiert und tradiert sich fort. Der heutige Tag übernimmt die Ordnung von gestern und der morgige von heute. In die Gesellschaft treten fortwährend neue Menschen ein und aus; konstant bleiben die Struktur, die Form, die Handelnsregeln, die Ordnung. In historischer Dimension ist der gegenwärtige Staat durch Übernahme der Legitimität aus dem gestrigen Vorgängerstaat gerechtfertigt. Er steht in einer Verfassungsgeschichte. Oder der Ursprung der Legitimation ist ein gewaltsamer Sturz eines Tyrannen und die Gründung eines rechtlichen Staates, dem allgemeine Zustimmung widerfährt, von innen und außen. Die Legitimation realisiert sich fortwährend durch den Genuss der Vorzüge des Rechtsstaates, der relativen Sicherheit des inneren Friedens, der Möglichkeit, Gerichte anzurufen und durch die Teilnahme an Wahlen. Zur Legitimation ist kein förmlicher Verfassungsvertrag notwendig, wohl aber sind es Zeichen wie Flaggen und ein Name, ein Territorium und eine gemeinsame Umgangssprache. Kurzum, die öffentliche Ordnung hat solange Bestand, wie sie von den Bürgern getragen wird.
Frühere Staatsformen bezogen ihre Legitimität aus der Idee des Gottesgnadentums des Königs, die allgemeine Zustimmung erfuhr. Letztlich leitete sich diese Legitimation wiederum aus der Funktion des Führers in Krieg und Frieden ab, auf den ein Stamm oder ein Volk angewiesen war und sich in einem religiösen Stammesmythos ausdrückt. Das komplementäre Verhältnis von Führung und Gefolgschaft ist ein ursächlicher Tatbestand, das als tierisches Erbe übernommen wurde. An die Stelle des Mythos tritt in der modernen Gesellschaft die Verfassung, an die Stelle der absoluten Macht die Gewaltenteilung, an die Stelle des Absolutismus die Republik5. Die Souveränität der Bürger manifestiert sich in Wahlen zum Parlament, das die Regierung kontrolliert.
Gewaltherrschaft ist keine legitime Herrschaft, ihr fehlt die allgemeine Zustimmung. Es ist die Herrschaft eines Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen gegen den Willen der anderen. Gewaltherrschaft bildet sich durch Revolution, Putsch oder durch Verfall der staatlichen Autorität. Der Verlust liberalen Bewusstseins führt zur Degeneration des Verfassungsstaates und in der Folge seiner Legitimitation.6
„Was wir menschliche Zivilisation nennen, war bis heute ein Fortschritt von der Zusammenarbeit aufgrund von hegemonistischen zur Zusammenarbeit aufgrund von vertraglichen Bindungen.“7 Die Durchsetzung des Verfassungsstaates ist eine Errungenschaft des langen Kampfes der Liberalen seit dem Ende der Glaubenskriege. Sie fällt historisch zusammen mit der Durchsetzung der freien Marktwirtschaft und ist mit ihr untrennbar verbunden. Die Republik bildet den Ordnungsrahmen für den Kapitalismus. Erst die freie Marktwirtschaft lässt die Menschen aus dem Herrschaftsverband heraustreten, gewissermaßen aus dem tierischen Erbe hierarchisierter Verbände und zu einem freien Menschen werden, einem autonomen Individuum. Die Verbindung der Menschen in der freien offenen Gesellschaft beruht auf freiwilligen Verträgen, deren Erfüllung aber erzwingbar sein muss. Auch Freihandelsabkommen benötigen Institutionen wie staatliche und überstaatliche Gerichte sowie private Schiedsgerichte, um das Recht durchsetzen zu können. Die freie offene Gesellschaft erhebt sich aus der natürlichen Grundlage, dem Herrschaftsverband. Sie bildet einen eigenen Kosmos über diesem, aber nicht ohne ihn.
Die Idee des Anarchismus ist eine der Früchte dieses Menschheitsepochenwechsels. Er glaubt, auf Herrschaftsverbände ganz verzichten zu können. Er kann diese Illusion nur pflegen, weil es eine offene Gesellschaft gibt. Vor dieser Epochenwende wanderten die Wunschbilder der Menschen in paradiesischen Vorstellungen eines Jenseits. Anarchie ist die moderne Form des Paradieses.
Die Merkmale der Herrschaftsverbände
Doch die Herrschaftsverbände bleiben bestehen. Sie bilden den Unterbau, auf dem sich die freie Marktgesellschaft erhebt. Sie sind die natürliche Seite der Gesellschaft, während die freie und offene Ordnung die künstliche, die geistige ist.8 Herrschaftsverbände (Familie, Stamm, Nation) verfolgen einen gemeinsamen Zweck und werden geführt (durch Eltern, Häuptlinge, Regierungen). Der Herrschaftsverband beruht in der Regel auf der Zustimmung der Mitglieder. Er ist nicht gleichzusetzen mit der systematischen Anwendung von Gewalt zur Brechung des Willens der Mitglieder. Er kann zur Gewaltherrschaft entarten, aber er ist genuin nützlich für alle Mitglieder und darum funktioniert er.
Beziehungen, bei denen zwei Partner sich ergänzen, heißen komplementär.9 Käufer und Verkäufer, Mann und Frau, Lehrer und Schüler, Trainer und Mannschaft, Herr und Knecht, Häuptling und Indianer üben unterschiedliche Funktionen in ihren Beziehungen aus. Sie nehmen die Stellung ein, für die sie durch Fähigkeiten wie Alter (Jugend), Erfahrung (Unerfahrenheit), Wissen (Unwissen), Kraft (Schwäche), Zeugen (Empfangen) geeignet sind. Sie bilden eine Arbeitsteilung aus und profitieren voneinander. Immer führt die überlegene Seite, doch sie unterwirft nicht den Willen des Partners, sondern dient seinen Interessen und kann auf ihn nicht verzichten. Führung kann mehr oder weniger streng ausgeübt werden. Sie kann ganz zwanglos sein, weil der geführte Partner ein ungebrochenes Vertrauen hat. Zwang wird gegen Mitglieder ausgeübt, die Regeln brechen und damit den Bestand des Verbandes gefährden, wenn der Verband bestehen bleiben soll. Andernfalls kann die Bindung getrennt werden. Ausübung von Zwang und Gewaltherrschaft sind vollkommen verschiedene Dinge. Gewaltherrschaft ist instabil. Zwang im Rahmen einer legitimen Ordnung dient der Stabilisierung. Sie ist zustimmungsfähig und die Verantwortlichen können zur Rechenschaft gezogen werden, da die Ausübung von Zwang ein Recht ist, das mit Pflichten verbunden ist.
Herrschaftsverbände sind natürliche Gebilde, weil sie tierische Wurzeln haben. Familien bilden Horden, aus Horden werden Stämme, diese gründen Dörfer, Stämme schließen sich zu Völkern zusammen und bilden Nationen. Jedes Unternehmen, jede Vereinigung ist Herrschaftsverband. Im Zuge der Zunahme des gesellschaftlichen Verkehrs wächst die Komplexität der Gesellschaftsstruktur und es bilden sich komplizierte Hierarchien aus. Auch Hierarchien sind tierisches Erbe. Bei Tieren nennen wir sie Hackordnung. Der Neidinstinkt ist das Motiv, das die Rivalität befeuert, des Kampfes um den jeweils höheren Rang. Ein weiterer Instinkt ist die Unterscheidung von Wir und Nicht-Wir (ingroup-outgroup). Auf ihm basieren primitive Reflexe wie Rassismus, Sexismus, Patriotismus. Der Territorialinstinkt, der sich im Heimatgefühl ausdrückt, korrespondiert mit dem Ingroup-Outgroup-Verhalten. Auch die ganze Nation, der Staat ist Herrschaftsverband und muss es bleiben. Er ist die höchste und äußere Schale ineinander verschachtelter Verbände. Glücklich kann sich eine Nation nennen, die nicht pfeift und trommelt, sondern Vuvuzelas ertönen lässt. Wer Herrschaftsverbände abschaffen will, muss einen neuen Menschen schaffen.
Nur praxisferne elitäre Intellektuelle können solche utopischen Ideen ausbrüten. In ihrer Verstiegenheit gleichen sich die Idee des Kommunismus, alle menschlichen Verhältnisse nach dem kleingesellschaftlichen Prinzip (des Herrschaftsverbandes vom Typ der Familie) zu gestalten, und die Idee des Anarchismus, alle Herrschaftsverbände (kleingesellschaftliche Verbindungen) abzuschaffen. Herrschaftsverbände bilden sich aufgrund des menschlichen Instinkts spontan. Jedes menschliche Paar ist ein Herrschaftsverband (beruht aus komplementären Teilbeziehungen). Niemand kann einen neuen Menschen schaffen.
Der Begriff der Herrschaft
Herrschaft fußt ganz allgemein auf dem Vermögen eines Handelnden zur Verwirklichung seines Willens. Wenn sich das Vermögen auf Sachen bezieht, wird es Eigentum oder Besitz genannt. Wenn es sich auf andere Menschen bezieht, die freiwillig in die Handlung einwilligen, sprechen wir von Vertrag oder Recht. Wenn andere nicht freiwillig einwilligen, sprechen wir von Zwang. Herrschaft ist (in einer vorläufigen Näherung an den Begriff) systematischer Zwangs innerhalb einer Gesellschaft, der durch eine Person, durch eine Gruppe von Personen oder durch ein politisches System über die anderen Gesellschaftsmitglieder ausgeübt wird. In dieser Bedeutung wird der Begriff Herrschaft allgemein verwendet.
Der Liberalismus hält, wie der Anarchismus, eine Herrschaft von Menschen über Menschen für ungerecht. Das ist die einzige wesentliche Gemeinsamkeit. Er kämpft jedoch für die Durchsetzung der Herrschaft des Rechts. Er sieht darin die Überwindung der Herrschaft des Menschen über den Menschen und die Grundlage für die Freiheit aller. Man kann auch sagen, die Herrschaft des Rechts ist streng genommen keine Herrschaft, weil sie alle Herrn und alle Untertanen gleichstellt. Im Rechtsstaat ist die Herrschaft von der Zustimmung des Volkes abhängig und durch Entzug der Zustimmung ablösbar. Dafür bedarf es indes keiner formellen Zustimmung neuer Bürger, da sonst keine Verfassung zustande kommen könnte – schließlich werden jeden Tag Kinder geboren. Der Wert der Demokratie ist vor allem die Möglichkeit, Regierungen unblutig abzusetzen, also Wandel unter Beibehaltung der Regeln zu ermöglichen. Die Mitwirkung einer Vielzahl von Menschen an der der Gestaltung öffentlicher Belange im politischen Prozess ist eine der Bedingungen einer offenen klassenlosen Gesellschaft und unblutiger Regierungswechsel.
Recht ist das Zusammengehen freier Menschen in einer Gemeinschaft nach dem Gesichtspunkt der rechtlichen Gleichheit. Der Liberalismus glaubt, dass dies möglich ist, weil das Leben in einer Gesellschaft existenziell notwendig ist. Aus dieser Notwendigkeit ergibt sich das übergeordnete Interesse der Bewahrung der Gesellschaft vor der Zersetzung. Selbst eine Diktatur wäre einem Zerfall in Bürgerkriegsparteien vorzuziehen.
Gegensatz: Stellung zur Herrschaft
Die Liberalen halten Herrschaft für eine unverzichtbare Grundbedingung für das Bestehen von Gesellschaften. Die Ausübung von Zwang im Herrschaftsverband dient zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung. Würde sie aufgegeben, würde die Leitung fehlen, der gemeinsame Zweck sich zersplittern, würde die Gesellschaft in Teile zerbrechen, die sich voneinander entfernen oder in vielen Fällen auch gewaltsam bekämpfen. Der Rechtsstaat als oberste Entscheidungsinstanz greift ein, wenn eigensüchtiges Verhalten alle schädigt. Wenn streitende Parteien sich auf keinen Vertrag einigen können und damit keine Regelung möglich ist, obwohl eine Lösung für alle, auch die sich verweigernden Parteien nützlich ist, kann der Staat als Schlichter und Konfliktlöser eingreifen und einen gerechten Vertrag für alle einsetzen, bei dem alle gewinnen, ohne etwas zu verlieren.
Die Anarchisten glauben nicht an die Möglichkeit einer übergeordneten Rechtsordnung. Für sie ist die Herrschaft des Rechts tatsächlich eine verkappte Herrschaft von Menschen über Menschen, eine Hierarchie. Sie negieren den liberalen Rechtsbegriff und kennen nur ein Recht, das Recht auf Selbsteigentum. Daraus leiten sie die Möglichkeit ab, mit anderen Verträge einzugehen. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse seien durch Verträge, die der persönlichen Zustimmung unterliegen, zu regeln. Es feststehendes objektives Recht kennen sie nicht.10
Da der Rechtsstaat nur der allgemeine Rahmen der Gesellschaft und daher nicht von der Gesellschaft zu trennen ist, ist die Ablehnung des Rechtsstaates gleichbedeutend mit der Ablehnung des gesellschaftlichen Verbunds. Folglich arbeiten die Anarchisten an der Zersetzung der Gesellschaft. Da nach ihrem Standpunkt in allen Gesellschaftsformen Herrschaft (über Menschen) ausgeübt wird, lehnen sie jede Form von Gesellschaft, auch die liberalen Rechtsordnungen ab. Jede Handlung einer Regierung und jedes Gerichtsurteil selbst im liberalsten Staat ist für sie Ausdruck von Herrschaft und Unrecht. Für sie kommt nur eine Gesellschaft in Betracht, der sie freiwillig beitreten und die sie verlassen können. Aber die Menschheit hat alle Siedlungsräume in Gesellschaften verwandelt. Wir treten nicht in die Gesellschaft ein, wir werden sie hineingeboren. Niemand kann die menschliche Gesellschaft verlassen, außer durch den Tod. Das Leiden der Anarchisten daran, dass es das herrschaftsfreie Land Nirgendwo nicht gibt, in das sie umsiedeln können, um ihre Ideale zu leben, ist ein Zeichen ihrer Verstiegenheit.
Gegensatz: Gesellschaft als ideeller Ausgangs- oder Endpunkt
Der Liberalismus argumentiert, dass die Menschen Mängelwesen sind und daher in Gemeinschaft leben. Schon unsere tierischen Vorfahren mussten in Gemeinschaften leben, um sich biologisch zu Menschen zu entwickeln und nahmen ihr biologisches Erbe, ihre Triebe und Instinkte mit in die menschliche Gesellschaft. Jeder Einzelne wird in die Gesellschaft hineingeboren. Das Neugeborene geht eine symbiotische Verbindung mit der Mutter ein (Klein-Gesellschaft) und diese ist bereits Mitglied der (Groß-)Gesellschaft. Gesellschaft ist ein Komplex11 von kleingemeinschaftlichen Gruppen, die Obergruppen bilden. Das Bestehen einer Gruppe ist an bestimmte Regeln gebunden, ohne die sie sich zersetzen würde. Die Regeln sind eine objektive Notwendigkeit zum Überleben für alle Gruppenmitglieder, die ohne die Vergesellschaftung nicht existieren können. Es ist daher für jeden existenziell notwendig, die Regeln der Gruppe anzuerkennen. Recht ist immer historisch und gesellschaftlich. Sie basiert auf Konvention. Der Rechtsbegriff ist außerhalb von gesellschaftlichen Bezügen inhaltsleer. Es gibt kein Naturrecht, nur Gesellschaftsrecht. Daher ist der Begriff des „Selbsteigentums“ keine rechtliche Idee, sondern ein Mythos. Und auch die Freiheit des Menschen muss gewahrt und durchgesetzt werden, wozu es Konventionen, Recht und erzwingbares Gesetz geben muss, folglich eine Gesellschaftsordnung. Der Rechtsstaat ist der allgemeine Regelrahmen der Gesellschaft. Für die Liberalen dient der Staat dem Funktionieren der Gesellschaft. Ausgangs- und Bezugspunkt aller Überlegungen ist aber stets der einzelne Mensch in seiner sozialen Gebundenheit. Er hat sich spontan über eine jahrtausendelange Geschichte herausgebildet, weil er den Menschen nützt.
Anarchisten begründen die Nichtrechtmäßigkeit von Herrschaft aus einem naturrechtlichen Standpunkt. Der Ansatzpunkt ist die Idee eines Menschen, der unabhängig von seiner wirklichen Lage, quasi von Natur aus das Recht zur Selbstbestimmung hätte. Es ist im Kern eine metaphysische Argumentation, die sich an die historische Wurzel des Naturrechtsdenkens (Grotius’ Begriff der natürlichen Religion) eng anlehnt, nämlich an christlich-theologische Auffassungen; es ist eine Spielart deistischer Theologie, ein Mythos.12 Daraus folgt, dass es kein Verfahren gibt, das die Anwendung von Zwang rechtfertigen könne. Zwang sei immer Unrecht. Der Anarchist muss daher alle Gesetze ablehnen, denen er nicht selbst zugestimmt hat. Alle rechtlichen Verhältnisse, denen er nicht ausdrücklich zustimmt, sind für ihn ungültig. Der Anarchist ist nicht in der Lage zu erklären, wie die Menschen ursprünglich die Gesellschaft bildeten. Da niemals alle Menschen gleicher Meinung in allen gesellschaftlichen Fragen sind, gibt es überhaupt keine Möglichkeit, ein allgemein verbindliches Recht und damit eine zusammenhängende Gesellschaft über einen Vertrag zu stiften. Er muss also zu Mythen greifen, die scheinbar erklären, dass Menschen ursprünglich in einen Staat gezwungen wurden, etwa durch Usurpation. Sie geraten aber dabei in einen infiniten Regress. Wie kamen die Usurpatoren zum Staat?
Gegensatz: Legitimität
Der Liberalismus sieht den demokratischen Staat als legitim an. Legitimität bedeutet zustimmungs- respektive anerkennungsfähig und damit rechtmäßig. Die Anerkennung der Legitimität von Herrschaft ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren der Gesellschaft. Deren Funktionieren wiederum ist der Grund für die Anerkennung. Es ist ein wechselseitiges Nutzenverhältnis. Für Liberale ist der Staat nützlich, und er soll stark sein, stark als Schutz von Recht und Ordnung.
Da die Anarchisten Herrschaft prinzipiell ablehnen, kann sie aus ihrer Sicht durch kein Verfahren legitimiert werden. Darum ist jedes anerkannte Legitimationsverfahren für sie wertlos. Für sie ist der Staat der Feind, den es zu vernichten gilt. Sie schießen mit ihrer Kritik an berechtigten Missständen und Missgriffen des Staatsapparates weit über das Ziel hinaus. Ihre Propaganda zielt faktisch auf die Delegitimierung jedes Staates. Demokratie sei ein „Wettbewerb der Gauner“. Wir erinnern uns, dass die Extremisten der Weimarer Republik den Reichstag als Schwatzbude verhöhnten. Anarchismus ist eine extremistische Ideologie.
Feindschaft in Kernfragen
Die liberale Idee des Rechtsstaates ist ein historischer Wendepunkt. Er beendet die Herrschaft des Menschen über den Menschen und leitet zu einer neuen Epoche über. Dieser Prozess ist noch immer lebendig und unabgeschlossen. Er ist auch immer gefährdet. Doch noch immer lebt der Westen in der Epoche des Rechtsstaates, dessen Gefährdung durch ein Nachlassen des liberalen Denkens verursacht ist.
Am Erfolg dieser historischen Leistung haben die Anarchisten kein Verdienst. Sie waren von ihren frühesten Anfängen immer in Opposition zum Liberalismus und dem Kommunismus verwandt. Ihr bedeutendster Theoretiker, Bakunin, hielt revolutionäre Gewalt auch gegen liberale Regierungen für gerechtfertigt. Geheimpolizei unterwanderte ihre Reihen und lenkte sie. Ihre Gewaltexzesse brachte den inneren Frieden immer wieder in Gefahr und damit auch den Bestand des Rechtsstaates.13 Auch wenn wir den Anarchokapitalisten die Verbrechen ihrer Glaubensgenossen nicht anlasten dürfen, so muss doch festgestellt werden, dass sie gleicherweise Hass und Verachtung gegen die Demokratie verbreiten.14
Gegensatz: Mitgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse vs. Fundamentalopposition
Liberale sehen Regeln und Gesellschaften als veränderbar. Sie halten ein Verfahren zur Veränderung der Regeln für unverzichtbar, bei der die Gesellschaft nicht zerstört wird. Das heißt, sie lehnen alle revolutionären Eingriffe ab.
Die absolute Ablehnung von Herrschaft läuft auf eine Zerstörung der Gesellschaft hinaus. Es ist praktisch unmöglich, bei einer Stunde Null zu beginnen. Es gibt immer nur Weiterentwicklung. Die Veränderung der Verhältnisse setzt aber die Anerkennung der Regeln voraus. Die Liberalen sehen die Möglichkeit, durch Reformen Freiheitsgrade zu erweitern. Sie können konstruktiv am politischen Leben teilnehmen. Sie bewerten auch kleine Erfolge positiv. Sie können Fortschritte erkennen und anerkennen. Sie wissen, dass es niemals ideale Verhältnisse geben kann. Daher sind sie vom Geiste her optimistisch und konstruktiv.
Die Anarchisten sind aus ihrer Denkweise heraus dazu gezwungen, alles abzulehnen, was der Staat in Gesetze fasst. Sie müssen auch alle neuen Gesetze ablehnen. Jede Ordnungen, der sie nicht explizit zugestimmt haben, ist für sie Zwang, jede Ampel eine Kränkung. Daher können sie nicht konstruktiv am politischen Leben teilnehmen. Sie können nur eine Fundamentalopposition bilden. Sie können auch keinen Fortschritt erkennen, der die Freiheitsgrade der Bürger erhöht, wenn er gleichzeitig den Staat festigt. Sie müssen zerstören, um zum Ziel zu gelangen.
Gegensatz: Politisches Handeln vs. Sektierertum
Die Anarchisten befinden sich in dem Dilemma, dass sie die Möglichkeit, politisch zu handeln, ablehnen, aber dennoch die Verhältnisse verändern wollen. Politisch zu handeln, heißt, Mehrheiten gewinnen oder eine Gewaltherrschaft errichten. Um politische Mehrheiten zu gewinnen, müssten sie am politischen Prozess teilnehmen. Diesen lehnen sie aber als Ausdruck von Herrschaft ab. Sie können die Zustände beklagen mehr nicht. Typisch ist ihr Rückzug in Sekten, ein Leben in Kommunen oder der Ausbruch zur action direct15, zur Zerstörung und zum Terror. Eine Form ihres Eskapismus ist das Liebäugeln mit dem Separatismus. Aber auch dann stellen sich in der separierten Gemeinschaft alle Fragen, die das Zusammenleben von Menschen betreffen. Der Eskapismus ist nur ein Zwischenschritt und lenkt vom eigentlichen Problem ab.
Die Liberalen wirken auf die öffentliche Meinung ein. Sie wissen, dass dies die Instanz ist, die letztlich über den Ordnungsrahmen, über die Leitbilder und über die Tendenz entscheidet. Sie lehnen Destruktion in der politischen Auseinandersetzung ab. Der Liberalismus wirkt indirekt auch über die politischen Parteien, in denen seine Ideen fruchtbar sind, direkt am Machtausübungsprozess mit. Liberale sind autonom denkende und handelnde Individuen. Zeitlose Ideen und Erkenntnisse des Liberalismus immer wieder ins Bewusstsein zu rufen und sie für die politische Praxis nutzbar zu machen, ist eine Daueraufgabe für Liberale, die sich für eine Annäherung an die Ideale einsetzen, ohne dem Zeitgeist zu huldigen
Gegensatz: Extremismus vs. Ausgewogenheit
Ihr Mangel an Strategie, ihre Fundamentalopposition in Verbindung mit der chronischen Verzweiflung an den als ungerecht empfundenen Verhältnissen erklärt die Neigung vieler Anarchisten zum Extremismus in Worten und Taten. Es ist kein Zufall, dass der politische Terrorismus ein Kind des Anarchismus ist. Da sie niemals eine Mehrheit erreichen können, aber auch nicht passiv sein können, sehen einige darin einen Ausweg. Sie fallen damit zwar ihrem hohen moralischen Anspruch der Gewaltfreiheit in den Rücken. Doch entwinden sie sich diesem Dilemma durch ein elitäres Argument. Sie behaupten, dass sie durch was auch immer die tieferen Einsichten in die Wahrheit gepachtet haben und weit über den Massen stehen, die sie verachten. Das elitäre Selbstbewusstsein tröstet sie über ihre Tatenarmut hinweg oder rechtfertigt den Exzess, bei dem die Opfer als wertlos betrachtet werden. Anarchismus tendiert zum Zynismus und Nihilismus. Der erste bekannte Denker ihrer Richtung, Diogenes von Athen, wird als Kyniker bezeichnet.
Der Liberalismus lehnt die Anwendung von Gewalt nicht prinzipiell ab. Er hält die Ausübung von Gewalt durch den Staat für gerechtfertigt, wenn sie sich gegen die Feinde der freien Gesellschaft richtet und der Erhaltung der Rechtsordnung dient, nach innen und nach außen. Die Anwendung individueller Gewalt hält er dagegen in keinem Fall für legitim, außer zur Notwehr.
Gegensatz: Verteidigung vs. Isolation
Da jede Verteidigung Staatspolitik ist, sind Anarchisten nicht in der Lage, die militärische Verteidigung zu rechtfertigen, ohne gleichzeitig den Staat zu rechtfertigen. Für sie kommt allenfalls der Einsatz einer Miliz in Frage. Sie vertreten daher einen isolationistischen Standpunkt, sie streben nach Neutralität und Lösung aus dem Verteidigungsbündnis. In ihrer Naivität liefern sie dadurch ihre Nation dem Feind aus.
Der Liberalismus hält die äußere Verteidigung für unumgänglich und legitim. Er sucht das Verteidigungsbündnis und lehnt jeden Angriffskrieg ab. Er vertritt die Integration der Staaten in ein freiheitliches Bündnis zu gegenseitigem Vorteil, zur Durchsetzung des Rechts und zur Erhaltung des Friedens.
Gegensatz: Recht vs. Selbstjustiz
Wo es kein Recht gibt, gibt es auch keine Richter. Damit entfällt in einer anarchistischen Utopie die Möglichkeit der friedlichen Beilegung von Konflikten, das heißt von Streitfällen, bei denen sich die Streitparteien nicht einigen können. Jeder ist gezwungen, selbst sein „Recht“ durchzusetzen, das heißt Selbstjustiz auszuüben. Auch die sogenannten Sicherheitsgesellschaften sind nur Erweiterungen der Selbstjustiz. Die Rechtsordnung fällt in den Zustand ungeregelter Gewaltverhältnisse zurück. Der Anarchismus ist gezwungen, die Möglichkeit von Konflikten in seiner Utopie zu leugnen.
Der Liberalismus hat mit dem legitimen Rechtsstaat eine zivilisatorische Grundlage. Eine friedliche Konfliktlösung ist gerade im Rahmen einer allgemein anerkannten und gültigen (d.h. durchsetzbaren) Rechtsordnung möglich. Sie ist privatrechtlich für zwei einzelne Menschen direkt möglich oder kann durch Schiedsgerichte erfolgen, gerade weil die Möglichkeit besteht, bis zur letzten Instanz einer gegebenen Rechtsordnung zu gehen. Es sei noch einmal betont, dass liberales Recht aus Konventionen erwächst und nicht von Herrschern oktroyiert wird.
Gegensatz: Differenzierende vs. simplifizierende Analyse
Die Sichtweisen prägen die Bilder der Zeitgeschichte und verzerren sie. Wo der Staat in allen Formen der Feind ist, muss er so stark wie möglich geschädigt werden. Daher richtet sich der Anarchismus konsequent am stärksten gegen den eigenen Staat. Er interpretiert alle seine politischen Aktivitäten negativ. Alle Maßnahmen dienen in seinen Augen der Befestigung und Ausweitung der Herrschaft. Dabei verirrt er sich bisweilen in wahnhafte Verschwörungstheorien16. So kann er beispielsweise nicht erkennen, dass osteuropäische Staaten in die EU wollen, weil sie sich davon einen Nutzen für sich versprechen, weil die EU, der eigene „Staat“, das Böse ist. EU-Erweiterung ist Expansionismus, ist Imperialismus. Die simplifizierende Analyse führt den Anarchismus an die Seite des äußeren Feindes, in diesem Fall an die Seite Russlands, das die Denkschemata des Anarchismus mit Scheinargumenten bedient.
Der Liberalismus als eine maßvolle und realistische Ideologie sieht die Widersprüchlichkeit der Verhältnisse, die Vermengung positiver und negativer Elemente. Er sieht auch negative Tendenzen, denn bei allem Optimismus ist er kein Anhänger des Meliorismus (des unkritischen Fortschrittsglaubens.) So kritisiert er beispielsweise die illiberalen Tendenzen der EU, er erkennt aber auch, dass Freiheit, Recht und Wohlstand unter russischer Flagge noch geringer sind.
Die innere Widersprüchlichkeit der Idee des Libertarismus
Es gibt keine Thematik, in der Anarchismus und Liberalismus sich verständigen können. Sie können nur zufällige Überschneidungen konstatieren, doch ihre Ziele sind diametral entgegengesetzte. Der Anarchismus will die Gesellschaft zersetzen, der Liberalismus sie in freiheitlicher Weise ausgestalten. Der Liberalismus hält die Demokratie und den Rechtsstaat für einen hohen Wert, der Anarchismus verunglimpft sie. Der Liberalismus anerkennt die Notwendigkeit eines Zwangsapparates, der Anarchismus bekämpft ihn. Der Liberalismus ist bereit, seine Freiheit zu verteidigen, der Anarchismus schert sich nicht darum und verteidigt die Gegner seines eigenen Staates. Beide Ideologien stehen sich feindlich gegenüber und bekämpfen sich.
Der Libertarismus in Deutschland17 darf nicht mit klassischem Liberalismus verwechselt werden. Er ist eine politische Strömung am rechten Rand des Parteienspektrums, die ihrem Selbstverständnis nach versucht, Anarchismus und Liberalismus zusammen zu führen. Doch ist eine solche Vereinigung, wie gezeigt, undenkbar. Sie geht auf Kosten einer der beiden Seiten. Der Libertarismus muss sich entweder zum Anarchismus oder zum Liberalismus wandeln. Tatsächlich führt er in Deutschland extreme Rechte und Linke unter dem Zeichen der Staatsfeindschaft zusammen oder wird an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen.
1 Hans-Hermann Hoppe: Der Wettbewerb der Gauner. Über das Unwesen der Demokratie und den Ausweg in die Privatrechtsgesellschaft, Berlin, 2012, S. 56.
2 Das Nonaggresionstheorem (Verzicht auf Erstaggression) leistet keine Dienste bei bestehenden Konflikten. Es ist auch kein zuverlässiges Instrument zur Konfliktvermeidung. Bei schwelenden Konflikten beschuldigen sich die Gegner gegenseitig, angefangen zu haben. Die Definition von Aggression kann im anarchischen Zustand nicht allgemeingültig sein. Vgl. Paul Watzlawiks Kommunikationsthereme, insbesondere die Doppelbödigkeit der Mitteilung und die Reziprozität von Ursache und Wirkung. http://www.paulwatzlawick.de/axiome.html
3 Schon David Hume hatte das Prinzip der Reziprozität von Ursache und Wirkung in komplementären Beziehungen verstanden. „Regierung, lehrte Hume, ist immer Regierung der Wenigen über die Vielen. Die Macht ist also letztlich immer auf der Seite der Regierten, und die Regierenden haben nichts, auf das sie sich stützen können, als die Überzeugung. Diese Erkenntnis, die logisch aus den Schlüssen gefolgert wurde, veränderte völlig die Diskussion über Freiheit. Der mechanische und arithmetische Standpunkt wurde aufgegeben. Wenn die öffentliche Meinung letztlich verantwortlich ist für den Aufbau der Regierung, ist sie auch die Kraft, die bestimmt, ob Freiheit oder Knechtschaft besteht. Es gibt nahezu nur einen Faktor, der die Macht besitzt, die Menschen unfrei zu machen – tyrannische öffentliche Meinung. Der Kampf um Freiheit ist letztlich nicht Widerstand gegen Alleinherrscher oder Oligarchen, sondern Widerstand gegen die Despotie der öffentlichen Meinung. Es ist nicht der Kampf der Vielen gegen die Wenigen, sondern der von Minderheiten – manchmal einer Minderheit von nur einem einzigen Menschen – gegen die Mehrheit. Die übelste und gefährlichste Form einer absolutistischen Herrschaft ist die einer intoleranten Mehrheit. Das sind die Schlüsse, die zu Tocqueville und John Stuart Mill führen.“ Mises: Theorie und Geschichte, München, 2012, S. 112.
4 Das wäre ein Zirkelschluss. Auch ein Gesellschaftsvertrag ist nur dann wirksam, wenn er durch die öffentliche Meinung getragen würde.
5 res publica = öffentliche Sache. Rechtsphilosophisch fasse ich darunter alle Staatsformen, bei denen die Regierung an eine Verfassung gebunden ist und von einem gewählten Parlament kontrolliert wird.
6 Vgl. Hayek: Recht, Gesetz und Freiheit, Tübingen 2003, S. 95. „Die Bürgertreue aber, das Fundament dieser Souveränität, hängt davon ab, ob der Souverän gewisse Erwartungen betreffend den allgemeinen Charakter jener Regeln erfüllen kann; sie wird sich verflüchtigen, wenn diese Erwartung enttäuscht wird. In diesem Sinne beruht alle Macht auf Meinung und wird durch diese beschränkt, wie dies am klarsten von David Hume erkannt wurde.“
7 Ludwig von Mises: Human Action, S. 497.
8 Kant spricht in Metaphysik der Sitten davon, dass Recht den intellegiblen Menschen voraussetze. Vgl. dazu meine Schrift Klassischer Liberalismus, BoD, Norderstedt, 2014.
9 Vgl. Watzlawik.
10 „Aber eine Rechtsordnung ist etwas anderes als ein ,Rechtsstaat‘ oder eine ,demokratische Rechtsverfassung‘. Die Ideen ,Staat‘ bzw. ,Demokratie‘ und ,Recht und Rechtssicherheit‘ sind logisch unvereinbar. Der (demokratische) Staat ist dadurch definiert, dass er Unrecht begehen und Enteignungen vornehmen darf. Staatliches Recht ist immer pervertiertes Recht. Was eine Gesellschaft tatsächlich braucht, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten und für ,klare Verhältnisse‘ zu sorgen, ist kein Staat und keine Demokratie, sondern eine Privatrechtsordnung.“ Hoppe, a.a.O. S. 39. Es ist unmöglich, Recht losgelöst von gesellschaftlichen Traditionen zu definieren. Die hoppesche Ableitung aus dem metaphysischen Begriff des Selbsteigentums ist ein Zirkelschluss. Wenn Selbsteigentum Recht begründet, muss es selbst rechtens sein. Andernfalls handelt es sich beim Selbsteigentum um ein Axiom, eine willkürliche Setzung. Die Idee der Privatrechtsgesellschaft kennt logischerweise nur Privatrecht, also Verträge. Es gibt dann kein öffentliches Recht, das die Grundlage und den Rahmen für die Verträge abgibt. Damit aber begründen sich diese aus sich selbst, m. a. W. sie sind willkürlich. Unter diesen Voraussetzungen wären Verträge zu Lasten Dritter nicht als Unrecht zu definieren. Unrecht von Verträgen muss logisch aus einem übergeordneten Prinzip abgeleitet werden, was nichts anderes ist als eine Definition von „Recht“. Wo aber verankert sich Recht, wenn es nur die Willkürakte der Einzelnen gibt? In einer eindimensionalen Welt kann es kein Recht geben. Es ist die Welt der Tiere, die keine Gesellschaften gründen können, sondern im erbitterten Streit um die Ressourcen gegeneinander kämpfen. Eine Privatrechtsgesellschaft ist die Rückkehr zur Natur. Die Begründung der These, dass Demokratie Unrecht sei, leitet der Autor aus der Erfahrung ab. Über die Unmöglichkeit aus der gesellschaftlichen Erfahrung Gesetze abzuleiten, vgl. Ludwig von Mises: Theorie und Geschichte. Eine Interpretation sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung, München 2014, S. 229 und S. 232 und zahlreiche weitere Stellen in seinen zahlreichen weiteren Werken. Ideengeschichtlich steht Hoppe auf dem Niveau des Rationalismus vor Entstehung der liberalen Aufklärung.
11 Komplex bedeutet, dass es keine einfache Schachtelung ist. Jeder Mensch ist zugleich Mitglied mehrerer Gruppen und seine Interessen können widersprüchlich sein. Jede Gruppe hat eigene Regeln und ist den Regeln der übergeordneten Komplexebene unterstellt. Das gesamte Regelsystem ist nicht konsistent und evolviert. Vgl. Hayek: Recht, Gesetz und Freiheit, Tübingen 2003, Kap. 7, insb. S. 174 ff.
12 Die Idee der „unveräußerlichen Rechte“ und die Idee der „Naturrechte“ sind nicht dasselbe. Naturrechte behaupten, dass Rechte mit der Geburt quasi inkorporiert gegeben sind. Man spürt hier noch die Herkunftsidee des Naturrechtsdenkens aus der „Gottesgnade“. „Unveräußerliche Rechte“ sind Grundbedingungen für die Möglichkeit von Gesellschaften überhaupt. Sie stiften die einzige Ordnung, die stabil ist, nämlich die, bei der zusammenarbeitende Menschen sich wechselseitig als gleichwertige Partner anerkennen, die gleicherweise frei sind und Mein und Dein respektieren.
13 Die Anarchisten Hödel und Nobiling verübten am 11. Mai und am 2. Juni 1878 Attentate auf den Deutschen Kaiser. Die Schuld wurde der Sozialdemokratie angelastet. In zwei Monaten wurden 521 Personen zu 812 Jahren Gefängnis wegen Majestätsbeleidigung verurteilt. Siehe Wolfgang Bock: Terrorismus und politischer Anarchismus im Kaiserreich, in: Hans Dieffenbacher (Hrsg.): Anarchismus, Darmstadt, 1996, S. 149. Die anarchistischen Zellen dieser Periode waren von Polizeispitzeln durchsetzt. Ebd., S. 154. Die anarchistischen Terrorgruppen in den 1970er-Jahren waren durch V-Leute infiltriert und wurden wenigstens teilweise von der Stasi gelenkt. Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Rote_Armee_Fraktion und http://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Aktenfunde/RAF/raf_node.html . In heutiger Zeit sind die Anarchisten für die Putinpropaganda interessant. Ich halte die Informationsquellen, die die Empörung der meist jungen Anarchisten anheizen, für verdächtig, vom russischen Geheimdienst instrumentalisiert zu werden.
14 „Natürlich ist die Demokratie, ob direkt oder indirekt, eine Form des Kommunismus.“ Hoppe, a.a.O., S. 29. Siehe auch Kap. I und II der Schrift. Dem Autor scheinen die Auffassungen der liberalen Denker nach Hobbes, namentlich Locke und Hume, nicht bekannt zu sein oder sie nicht akzeptieren wollen. Vgl. meine Schrift zum Klassischen Liberalismus, insbesondere die Kapitel zu Hume, Locke und Kant.
16 Ein Beispiel ist der Mythos der „neuen Weltordnung (NWO)“. Nach dem Vorbild von Hitlers Weltmachtplänen, die tatsächlich gehegt wurden, wird von Anarchisten angenommen, dass eine geheime Verschwörung der mächtigsten Menschen seit Jahrzehnten weltweit auf eine einheitliche Weltregierung hinarbeite. In starkem Verdacht stehen die Organisatoren der Bilderberg-Konferenzen. Der Mythos erklärt alle Gegensätze zwischen staatlichen Mächten (CIA, KGB usw.) zum bloßen Schein. Er erlaubt eine extrem simple Deutung zeitgeschichtlicher Vorgänge für alle, die bereit sind, auf Differenzierungen und die Verwendung ihres Verstands zu verzichten.
17 Die begriffliche Verwirrung der Bezeichnungen kommt von der Verwendung des Begriffs „liberal“ für die Demokratische Partei der USA, die aber nicht klassisch liberal ist, sondern eher der deutschen Sozialdemokratie ähnelt. In den Staaten nennen sich die klassisch Liberalen libertarians, um sich davon zu unterscheiden. Diese Bezeichnung wählen aber auch einige Anhänger anarchistischer Ideen. Ich halte es für vorteilhaft, am Begriff des Liberalismus festzuhalten, auch wenn er von vielen Kräften für sich reklamiert wird, die in ihrem Wesenskern antiliberal sind, und nicht die amerikanische Terminologie zu importieren.