Fast 30 Autoren und Texte unternehmen Zerreissproben. Untersucht wird das Verhältnis von Journalismus und Liberalismus. Ermessen lässt sich nach dem perspektivenreichen Vermessen des öffentlichen Diskurses wie stark die vierte Gewalt sich selbst desavouiert hat. Vom harmlos klingenden Aktivismus bis zur handfesten Propaganda reichen die Defizite einer je nach Bewertung vielleicht bereits überkommenen Branche, die immer noch die öffentliche Meinung beeinflussen kann, auch wenn sie einen Teil der Bevölkerung nicht mehr erreicht.
Stephan Russ-Mohl, Christian Pieter Hoffmann (Hg.): Zerreissproben. Leitmedien. Liberalismus und Liberalität, Schriftenreihe zur Rettung des öffentlichen Diskurses Bd. 4, Herbert von Halem Verlag, Magdeburg 2021, 253 S., 23,00 Euro Paperback.
Viele Beiträge lassen eine dominierende Diagnose erkennen: An die Stelle nach Objektivität strebender Journalisten treten politische Positionen propagierende Meinungsmacher. Haltungsjournalismus ist en woke (sic!). Ds ist zugleich eine von mehreren Antworten auf die Leitfrage der Schriftenreihe zur Rettung des öffentliches Diskurses: „Warum ist der Lager übergreifende öffentlich-demokratische Diskurs gefährdet, ja geradezu kaputt?“ Ergänzen ließen sich Hinweise auf zahlreiche Untersuchungen, Theorien und Argumente, die sich in den USA in Buchform diesem Thema in einem fruchtbaren Diskurs widmen.
Die fast 30 kompakten, heterogenen Beiträge sind drei Sektionen zugeordnet: 1. Schwund von Liberalismus und Liberalität. 2. Liberaler Journalismus und liberale Journalisten? 3. Parteien und Journalismus in den Medien. Den Rahmen bilden eine Einleitung und das Schlusswort von Stephan Russ-Mohl.
Einige persönliche Beobachtungen und Bemerkungen:
- Die Ablehnung des Neoliberalismus als „Höflichkeitsgeste“ und „Begrüßungssymbolik“ zu verstehen, erscheint gleichermaßen treffend wie potenziell entspannend hinsichtlich des eigenen Verständnisses als auch der angemessenen Relativierung der abgedroschenen Neoliberalismus-Kritik.
- Das Schema Linke versus Rechte lässt sich durch die Dimension Freiheitliche (Liberale) erweitern. Die dritte Dimension ist etwas für eine Minderheit, für Freiheitsliebende, für Menschen, die differenziertes Denken simplen Feststellungen vorziehen.
- Journalismus hat(te) ein liberales Fundament, könnte ein Entmachtungsinstrument sein, dient heute zunehmend der Ermächtigung. Noch unbeantwortet und zu wenig erprobt erscheint die Frage, wo und wie eine liberale Fundierung an anderer Stelle als den Hauptstrommedien gelingen könnte.
Margit Osterloh hat eine schwere Form von Long-Covid entdeckt, den „Autoritätsvirus“ mit Lust an Bevormundung und autoritärem Durchregieren. Wer sich intensiver mit diesem Thema beschäftigen möchte, der wird im Café Hayekfündig. Don Boudreaux thematisiert dort Covidiocracy als schwerwiegendste Form von Long-Covid und bietet inzwischen unzählbar viele empirische, logische und spitz formulierte Hinweise.
Mediale Interessenpolitik immer noch entschuldigt?
Die Bezeichnung Haltungsjournalismus als Selbstbeschreibung der Politik betreibenden Medienangestellten erinnert primär an schlechte Haltung. Aktivismus und Moralismus sowie das angeblich Gute und das vermeintlich privilegierte Wissen erscheinen in einer historischen Einordnung als Ablenkung und als Decklügen für simple politische Werbung. Kritisch hinterfragen lässt sich, ob es angemessen ist, diese Form der Interessenpolitik noch als Journalismus zu bezeichnen und in Verbindung mit etwas lediglich erklärtermaßen Guten und Richtigen zu bringen. Sind Liberale zu nachsichtig und richten damit Schaden an?
Passend dazu bezeichnet Josef Joffe den weichen Totalitarismus als Feind des Liberalismus und einer offenen, pluralistischen Gesellschaft. Roland Baader charakterisierte das vor langer Zeit als „Samtpfotensozialismus“. Eine treffende Diagnose und gelungene Formulierung ist die Ablösung von Individualität durch Identität. Der Interessen geleitete, machtpolitisch konnotierte Kollektivismus ist offensichtlich in vielen Feldern zurück – Klimaalarmismus, Genderismus, Paternalismus, Kulturkampf und linker Neorassismus (Wokismus) gehören dazu. Mit totalitären Experimenten haben die Deutschen gleich zwei Mal extrem schlechte Erfahrungen gemacht.
Blickwechsel statt linker Einäugigkeit
Christian Pieter Hoffmann analysiert die Linksverschiebung, den Linksbias der Journalisten im Vergleich zur Bevölkerung. Vielleicht ist das nicht ganz neu: Mein Großvater sprach vor etwa 40 Jahren von der linken Journaille. Damals gab es indes noch verschiedene parteinahe und auch konservative Zeitungen. Christian Pieter Hoffmann gelingt in seinem Beitrag eine perspektivenreiche Kartographierung. Eine Folge der Linkslastigkeit sei ein Medienzynismus bei einem Teil der Bevölkerung. Nicht mehr Repräsentierte wanderten zu Alternativen mit häufig geringer Qualität ab. So fördert mediale Einseitigkeit eine Polarisierung. Eine Selbstabwertung des Journalismus nimmt Formen an mit Folgen für die Gesellschaft – eine Abwärtsspirale für den etablierten Journalismus?. Bedenkenswert erscheint der Vorschlag des liberalen Leipziger Kommunikationswissenschaftlers, Streit und Kontroverse anstelle des wenig erfolgreichen Objektivitätsstrebens zu setzen. Wer das mit Perspektivenvielfalt übersetzt, wird der dynamischen Komplexität unserer Welt gerecht. Ein erhellendes Bild eines Sachverhalts erhalten wir regelmäßig sobald wir unterschiedliche Perspektiven einnehmen.
Ikonendemontage
Gregor Engelmeier und Fatina Keilani zeigen auf wie Anne Will selbsterklärt den nach Objektivität strebenden Journalismus durch einen Haltungsjournalismus ablösen will, der sich mit einer Sache gemein macht. Die beiden Autoren betonen: „Die ‚Sachlichkeit‘, welche sich die in der unmittelbaren Nachkriegszeit den Beruf ergreifende Generation von Journalisten zum Markenzeichen machte … grenzte sich ganz bewusst vom selbstüberheblichen Bombast des zuerst weltanschaulich durchideologisierten und dann gleichgeschalteten Journalismus der 1920er- und 1930er-Jahre ab.“ Die Fehlbarkeit ist solchen „Journalisten“ abhanden gekommen. Vom missionarischen Auftrag ist nicht mehr weit zur Beeinflussung bzw. Steuerung der öffentlichen Meinung und darüber der Politik durch Journalisten für ihre selektiven Präferenzen.
Passend dazu erinnert Rainer Hank an den Reporter Herbert Riehl-Heyse, der bereits 2001 in einer Vorlesungsreihe über die Poetik des Journalismus den „pädagogischen Moralismus als Neigung zur anmaßenden Hochstapelei“ ironisiert habe. Und Henrik Müller weist auf das versagende Frühwarnsystem eines unzulänglichen Wirtschaftsjournalismus im Vorfeld der Finanz- und Staatsschuldenkrise hin. So viel zum vermeintlichen Mehrwissen der Medienschaffenden. Zunftprobleme sind nicht nur den Wirtschaftswissenschaften zu eigen.
Auswege
Stephan Russ-Mohl zeigt abschießend wie eine erfolgreiche Stärkung des Journalismus über eine Stiftung in den 1980er Jahren gelang. Angesichts der im Band gezogenen Bilanz war diese indes nicht erfolgreich genug.
Ergänzen ließe sich die Perspektive, dass die Zeit reif sein könnte für neue Institutionen. Das gilt auch dann, wenn ein Kulturkampf nicht die Lösung ist, selbst wenn man gewinnt, wofür es derzeit keine Anzeichen gibt, weil zu viele Schäden angerichtet wurden.
Pressefreiheit ist ein alter, vielleicht veralteter Begriff im digitalen Zeitalter. Die Pressefreiheit dient(e) nicht zuletzt der Verteidigung der Freiheit durch Kontrolle der Mächtigen, sie dient(e) nicht nur der Freiheit der Presse. Wenn eine Branche derart anfällig ist für Einseitigkeit und kulturkämpferische Übernahme, stellt sich die Frage nach einem Ausweg. Vielleicht übernehmen im wilden Stimmengewirr digitaler Medien, Plattformen und Foren neue Institutionen bereits diese Aufgabe. Offenkundig lohnt es sich, diejenigen zu lesen und zu hören, die uns Substantielles und Neues mitteilen. Das erfordert eine handverlesene Zusammenstellung. Die ist gleichermaßen aufwändig, anstrengend und ungemein bereichernd. Wie die Verteidigung der Freiheit selbst. Da es viele Fachkundige gibt, von denen man Informationen aus erste Hand bekommt, braucht ein Teil der Bevölkerung die zwischengeschalteten „Second Hand Dealers of Ideas“ nicht mehr oder vertraut neuen, individuellen, privaten Personen.
Offen erscheint bei der Lektüre des Bandes: Ist die Vielzahl der Beiträge hilfreich? Handelt es sich noch um ein lesbares Buch und wäre ein mediales Format mit Homepage, Forum und animierten, ansprechend gelayouteten Beiträgen eine Alternative? Wen kann die Publikation erreichen und ist ein Diskurs damit möglich? Würde ein Diskurs überhaupt etwas bewirken? Wird es eine nachfolgende Generation von Journalisten geben, die wieder ihren Job macht?
Eine liberale Alternative zu den herkömmlichen Nachrichtenportalen mit objektivem und vor allem perspektivenreichem Journalismus wäre großartig. Wir leben in einer Zeit, in der die Verfügbarkeit von Wissen unbegrenzt, das eigene Wissen zugleich eng begrenzt ist.