Franz Schuster: Thüringens Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Privatisierung. Sanierung, Aufbau. Eine Bilanz nach 25 Jahren, Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2015, 263 S.. 19,90 €.
Die Soziale Marktwirtschaft ist ein ordnungspolitisches Konzept, eine historische Wirtschaftsordnung und eine politische Formel. Die Gründerväter und Patenonkel Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Walter Eucken und andere verstanden darunter eine Wettbewerbsordnung, deren Rahmen von einem starken Staat gesetzt, kontrolliert und korrigiert wurde. Erhard brachte es auf die Formel „Wohlstand durch Wettbewerb“. Sein langjähriger Staatssekretär im Wirtschaftsministerium formulierte die Kernidee wie folgt: “Der Begriff Soziale Marktwirtschaft kann so als eine ordnungspolitische Idee definiert werden, deren Ziel es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden.” Ludwig Erhard hielt die Marktwirtschaft für per se sozial: „Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch.“ Im ursprünglichen Sinne existierte die Soziale Marktwirtschaft nur bis Mitte der fünfziger Jahre. Anschließend wurde sie zunehmend zum Etikett, das heute auf dem demokratischen Wohlfahrtsstaat klebt, den die Gründerväter vehement ablehnten. Erhard hielt nichts für unsozialer als den sogenannten Wohlfahrtsstaat.
Franz Schuster weist insofern Ähnlichkeiten mit Ludwig Erhard auf als er fast ein Jahrzehnt Wirtschaftsminister war, allerdings in Thüringen. Und er hat, ebenfalls als Ökonom und Politiker, einen politischen Rechenschaftsbericht in Buchform publiziert, der die Umwandlung einer sozialistischen Wirtschaft zum Gegenstand hat. Im Mittelpunkt des detaillierten, zuweilen handbuchartig gehaltenen Privatisierungsberichts steht die Treuhandanstalt, der die Hälfte der zehn Kapitel gewidmet sind, darunter ihr Auftrag, die Privatisierung der Industrie und anderer Wirtschaftssektoren, Restaufgaben wie Vertragsmanagement und Umwelt/ Altlasten, ferner die Privatisierung nach den drei Regionen Thüringens (Mitte-, West- und Nord, ferner Ost- sowie Südthüringen) und schließlich die Bilanz. Ergänzend werden behandelt die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie die Strukturpolitik. Im Auftaktkapitel werden Ausgangslage und Rahmenbedingungen der zusammengebrochenen Planwirtschaft dargelegt. Den Abschluss bildet ein perspektivisches Fazit „Vom Aufbau Ost zum Ausbau Ost“. Franz Schuster kommt zu dem Ergebnis: „Die Abschaffung der sozialistischen Planwirtschaft und die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft waren spätestens zehn Jahre nach der Wiedervereinigung weitgehend bewältigt.“ (S. 223). Allerdings beziffert er wenige Seiten später die Arbeitsproduktivität auf rund 70 Prozent bei einem Lohnniveau von 77 Prozent des Westens. Es folgen Hinweise auf gravierende Entwicklungsrückstände hinsichtlich Wirtschaftsleistung, Produktivität, Industrialisierung, Innovationsfähigkeit, Selbstfinanzierungsfähigkeit usw. Kapitel und Buch enden mit der Einschätzung: „25 Jahre nach der Wiedervereinigung steht fest, dass die Transformation der sozialistischen Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft gelungen und die Gefahr der De-Industrialisierung der neuen Länder gebannt ist. In Thüringen haben die THA, die BvS und die Wirtschaftsförderung des Freistaats einen wirtschaftlichen Neuaufbau geschafft, der Thüringen mit an die Spitze der neuen Länder geführt hat.“ (S. 243) Diese Einschätzung trifft zwar zu und mit der Fülle vorangehender detaillierter Darlegungen zur Privatisierung von Betrieben und zu Infrastrukturmaßnahmen überein. Kritik wird erwähnt, wenn auch in relativierter Form, etwa zu den hohen Kosten der letztlich gescheiterten Großprojekte in den Branchen Werften, Chemie, Stahl und Braunkohle. Indes bewegt sich die Darstellung unter dem Primat der Politik, die letztlich immer Recht hat oder nichts dafür kann: Umstellungskurs der Währung: „gerechtfertigt“, Vielzahl der Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen: „soziale Komponente unserer Marktwirtschaft“, sofortige Integration in die BRD mit Übernahme der gesamten Sozial- und Verwaltungsvorschriften – damaliger aufgestauter Reformen zum Trotz – alternativlos, staatlich dirigierte Subventionswirtschaft: trotz Fehlern „im Grundsatz richtig“. Der Leser kann angesichts der Fülle bereits zeitgenössischer substanzieller Kritik insbesondere am wirtschaftspolitischen Vorgehen skeptisch bleiben. Mit einer Transformationspolitik unter der Maßgabe der Arbeitsplatzsicherung war – wie Franz Schuster treffend am Rande bemerkt – „ein rein marktwirtschaftlicher Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft nicht zu bewerkstelligen.“ Soziale Marktwirtschaft beruht auf Ordnungsprinzipien, die nicht erst nach 1989 verloren gegangen sind. Die Folgen dokumentiert der Band en Detail.
Michael von Prollius
Quelle: Erschienen in Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG) 103 (2016), 231f.