„Ein Deutscher, ein Mann wie eine Flamme, ein Freund am Abend vor dem Krieg.“ Harro Schulze-Boysen bildeten einen Knotenpunkt im bürgerlichen Widerstand gegen das NS-Regime. Der Schriftsteller Norman Ohler erzählt dessen beeindruckende und bedrückende Geschichte, zugleich die seiner Frau Libertas und vieler Mitstreiter. Entstanden ist ein Sachbuch, das wie ein Film durch den Kopf geht.
Harro und Libertas inmitten eines schillernden Netzwerkes – zwischen den Welten. Beide hatten namhafte Vorfahren im kaiserlichen Deutschland: den Soziologen Ferdinand Tönnies, Admiral von Tirpitz, den Kaiser-Vertrauten und Freund Philipp Fürst zu Eulenburg. Ohne herkömmliche Ausbildung machten beide beruflich Karriere. Harro war zunächst erfolgreicher Herausgeber der Zeitschrift „Gegner“ mit einem bemerkenswerten Pluralismus politisch-kultureller Perspektiven, arbeitete später als geschätzter Referent und Offizier im Reichsluftfahrtministerium. Libertas hätte an ihre glänzende Marketing-Performance bei Metro-Goldwyn-Mayer eine internationale Karriere als moderne Frau anschließen können. Beiden liebten sich und andere Persönlichkeiten in einer offenen Ehe. Inmitten von einem „Meer von Heuchelei und Mittelmaß“ scharten sie Schriftsteller, Künstler, Ärzte, Journalisten um sich, organisierten zahlreiche private Veranstaltungen, die Intellektualität und Vergnügen verbanden.
Die vermeintliche „Rote Kapelle“ war tatsächlich ein Inbegriff von Berliner Bürgertum und Bohème. Die Gestapo ideologisierte das Netzwerk von rund 100 Personen um Harro Schulze-Boysen, Arvid Harnack und Adam Kuckhoff und konstruierte eine Lenkung durch den sowjetischen militärischen Geheimdienst. Selbst der Chef-Ermittler der Gestapo, Kriminalrat und SS-Hauptsturmführer Horst Kopkow, kam zu dem Schluss: „Das können keine Kommunisten sein. Das ist Berliner Boheme. Kopkow ist verwirrt.“ Und das NS-Regime war nicht zuletzt entsetzt über Breite, Vielfalt und Kreativität des Widerstands inmitten der Hauptstadt.
Frühzeitig erkannte Harro Schluze-Boysen den deutschen Spießer als eigentlichen Feind. Der nistete sich überall ein. Die politischen Ziele des Freidenkers waren seit je her: „Eigenarten anerkennen, Verschiedenheiten begrüßen“ sowie persönliche Interessen hintanstellen und für die Freiheit eintreten.
Beim Lesen der Tragödie wird deutlich, dass der Kleinbürger Hitler und die ihn umgebenden Spießer in ihren schlecht sitzenden Anzügen keine Chance in einer großen, pluralen Gesellschaft hatten. Unbedingter Wille zur Macht, Gewalt und Organisationsfähigkeit, nicht zuletzt als Usurpation demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen, ermöglichten den Aufstieg des Postkartenmalers zum Gröfatz. Einblicke in das Verfahren der Militärgerichtsbarkeit illustrieren die groteske Willkür.
In der heutigen Krisenzeit scheint ein eigentümlicher Subtext durch. Das gilt für das sukzessive, dann rasende Unterdrücken von Meinungen. Wohin führt es, wenn nur noch eine Meinung bei Klima, Gender, Kapitalismus und Corona-Politik erlaubt sein soll, folglich abweichende Ansichten als Leugnen, radikal und rechts diskreditiert werden? Norman Ohler zeigt wie Geschichtsschreiben gelingt und zum Nachdenken anregt. Wie lebt es sich in einer Gesellschaft, in der anders denken eine Straftat ist? Wie lebt es sich in den Trümmern eines Rechtsstaates? Wohin führt der Zusammenbruch einer politischen Ordnung?
Die allfällige Problematik partiell idealisierter Protagonisten schwingt mit. Die letzten Gründe für den Widerstand von Harro Schulze-Boysen nach seiner schweren Misshandlung durch die SS im April 1933 bleiben jedem Außenstehenden verschlossen, scheinen bei der lebensmunteren, mitwirkenden Libertas indes einfacher greifbar. Zuletzt bleibt die Frage: Was wäre wenn das Netzwerk keinen aussichtslosen Kampf geführt, sondern ein aussichtsreiches Leben geführt hätte. Es sind nicht nur die klügsten Köpfe, die man hängt, sondern auch die man braucht – für den Wiederaufbau in der Zeit danach.
Michael von Prollius
Norman Ohler: Harro & Libertas. Eine Geschichte von Liebe und Widerstand, Kiepenheuer & Witsch, 1. Aufl. Köln 2019, 492 S., 24,00 Euro (gebundene Ausgabe).