Gekränkte Herrschaft 
Gekränkte Herrschaft 

Gekränkte Herrschaft 

Gekränkte Herrschaft 

Die herrschende Meinung, die Meinung der Herrschenden, das ist für Stefan Blankertz ein Synonym. Als Wortmetz zeigt er das auf, indem er die zweite Formulierung konsequent in Klammern der ersten hinzufügt. Als profunder Herrschaftskritiker gelingt ihm der inhaltliche und der methodische Nachweis, indem er sich intensiv mit der irrtumsreichen und weit verbreiteten Ideologie repressiver Egalität auseinandersetzt. Der Sozialphilosoph geht noch darüber hinaus und skizziert für den aufmerksamen Leser eine Theorie der Herrschaft. 

Die Schrift ist ein beispielgebender, zeitloser Diskussionsbeitrag. Wer Liberale und insbesondere Libertäre kritisiert, wer wohlfahrtsstaatliche Gleichheit befürwortet, kommt an Stefan Blankertz‘ erfahrenem kritischen Diskurs nicht vorbei. Eine doppelte Herausforderung gilt es zu meistern: die Auseinandersetzung erstens mit den repressiven Komponenten vermeintlich (?) wohlmeinender Egalität und zweitens mit der Kränkung, die sich Vertreter dieser Herrschaft ausgesetzt sehen, so präsentiert es der Berliner Freidenker einsichtsreich.

Der dichte intellektuelle Text entspringt einer Auseinandersetzung mit einem vergleichsweise leichtfüßigen Buch, dessen Narrativ weitgehend unreflektiert verbreitet ist. Stefan Blankertz setzt dem eine differenzierte Sicht auf Ideologie, Wissenschaft und Demokratie entgegen. Eine kritische Auseinandersetzung mit seinem durchdachten Weltanschauen kann wiederum an Voraussetzungen von Herrschaftslosigkeit ansetzen. Das Buch „Wider den Triumph repressiver Egalität“ ist sehr aktuell wie zunehmende Regierungskritik und Reaktionen tagtäglich illustrieren. Wer einen Blick hinter diesen Konfikt werfen möchte, kann bei der Lektüre neue Einsichten gewinnen. 

Im Einzelnen:

Ideologie definiert Stefan Blankertz als „Herrschaftslegitimation qua der Aufstellung moralischer Wertesysteme“ (S. 61). Die von ihm als „Anatomie gekränkter Herrschaft“ bezeichnete Haltung legt er frei, indem er die Denk- und Argumentationsweise von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in deren Buch „Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus“ (Suhrkamp Verlag 2022) analysiert. Der Berliner Ideologiekritiker hält deren Schrift für eine „von der Herrscherklasse in Auftrag gegebene Schmähschrift“ und für eine „üble Nachrede in populärwissenschaftlichem Gewand“ sowie für „kein seriöses Werk“. (S. 9) Starke Worte gegen eine viel Aufmerksamkeit genießende Schrift untermauert mit bedenkenswerten Argumenten. Dazu gehören

  1. das Aufzeigen des repressiven Charakters egalitärer Ideologie und Praxis,
  2. das Darlegen des Mechanismus der Stärkung der Reichen durch Umverteilung,
  3. die Widerlegung der Argumentation von Amlinger/Nachtwey mit Tocqueville, Adorno und anderen Klassikern durch Tocqueville, Adorno und andere Klassiker,
  4. das Entschleiern der Geldillusion, die mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen verbunden ist,
  5. der Nachweis, dass die beiden Autoren etwas kritisieren, das sie weder verstanden noch richtig beschrieben haben, nämlich Libertarismus,
  6. eine wohl überlegte Demokratiekritik, mit Bourdieu-Bezügen, ohne destruktiv angelegt zu sein,
  7. eine durchdachte Kritik der vorherrschenden Gemeinwohlthese verbunden mit der Warnung einer immanenten Verrohrung des politischen Diskurses,
  8. eine triftige Staatskritik, die geeignet ist, eine Debatte zu befördern,
  9. eine Annäherung an eine (umfassende) Theorie der Herrschaft, die die Gesellschaft strukturiert, antifreiheitlich, mitunter gewaltsam,
  10. eine umfangreiche Fallstudie zur Corona-Politik, die die Verschiebung des Denkens und Handelns weg von individueller Risikotaxierung hin zu legalistischem Handeln vielfach ohne Gesundheitsrelevanz aufzeigt.

Möglich wird dieser letztlich inhaltliche und methodische Verriss durch das Einnehmen einer konsequent herrschaftskritischen, herrschaftsaversen Perspektive. Das liegt bei Stefan Blankertz als Gründer des Instituts für Ideologiekritik nahe. Leser werden sich darin entweder heimisch fühlen oder eine neue Üerspektive kennenlernen. Teil dessen ist eine versierte Diskursfähigkeit und eine ebensolche Kenntnis von insbesondere dem linken Spektrum zugeordneten Wissenschaftlern. Erwähnt sei, dass Stefan Blankertz nicht nur die Frankfurter Schule gut kennt, sondern auch in einer eigenständigen Publikation „Mit Marx gegen Marx“ denselben gleichsam überwunden hat (edition g. 111, 2014). 

Eine für die beiden Autoren an die Substanz gehende Argumentation bietet Stefan Blankertz, indem er en passent aufzeigen kann, dass sie die zitierten Autoren nicht verstanden haben, und unwissenschaftlich vorgegangen sind, darunter auch mit einer misslungenen Feyerabend-Vereinnahmung. Daraus resultiert der Vorwurf, Propagandisten einer herrschenden Ideologie zu sein, deren Vertreter sich durch Widerspruch und fundierte Kritik aus bürgerlichen Kreisen gekränkt fühlen. Eingangs zitiert er Erich Mielke: „Ich liebe doch alle Menschen.“ (S. 10) Hintergrund ist das Plädoyer der beiden Autoren für einen Staat als Instrument des sozialen Fortschritts.

Die Argumentation mit Amlinger/Nachtwey gegen Amlinger/Nachtwey mündet in einem Zwischenfazit, das sich zu zitieren und zu diskutieren lohnt, gerade wegen der deutlichen Formulierungen, die manche (darunter Nicht-Intellektuelle) als zu scharf bewerten könnten:

Heute ist Widerstand nicht mehr wie früher ein klares „wir (hier unten)“ gegen „die (dort oben)“. Um Widerstand zu leisten und zu organisieren bedarf es der Einsicht, dass der zunehmende Einfluss der Staatsgewalt auf das gesamte wirtschaftliche, soziale und private Leben Wohlstand vernichtet, Lebensfreude abwürgt und die kreative Kraft zur Lösung gesellschaftlicher Probleme so weit reduziert, dass sie unlösbar zu werden drohen. Das Milieu des Protestes, das Amlinger und Nachtwey beschreiben, ist dabei, dies zu realisieren. Es ist auf dem Weg dahin, anti-autoritär, mithin libertär zu werden.

Warum ist dieses Traktat für Diskurs und gegen Repressivität von Stefan Blankertz nach meinem Eindruck so lesenswert und diskussionswürdig, und zwar weitaus mehr als die bisher verbreitetere „linkskonservative“ Anti-Protest-Schrift? Warum? Darum: Ideologiekritik. Transparenter Diskurs. Intellektualität. Herausfordernde Denkanstöße. Konsequenter Perspektivwechsel. Stringente politische Theorie mit Anwendung in einem Fallbeispiel. Zusammen genommen eine starke Argumentation gegen Ideologie und Herrschaft. Und: Ausgangspunkt für eine eigene Kritik.

Stefan Blankertz und ich haben unsere gemeinsamen und unterschiedlichen Freiheitsperspektiven nachlesbar in den Vincent-Sessions diskutiert. An dieser Stelle bietet sich eine kleine Ergänzung an. Sie betrifft einerseits das Thema Herrschaft und andererseits das Thema Grautöne in einer schwarz-weißen Sicht, die  politischer Theorie immer wieder innewohnt.

„Die Empirie ist gegen uns.“ bemerkte Stefan Blankertz einmal im Vincent. Tatsächlich gibt es kaum Beispiele für herrschaftsloses Zusammenleben von Menschen in einer für eine moderne Gesellschaft hilfreichen Weise, so weit man auch in der Geschichte zurückgeht. Einige Menschen drängt es zum Herrschen, viele zum Beherrschtwerden, sei es aus einer persönlichen Disposition, in der Annahme, so Schutz und Unterstützung zu finden, sei es aus Gewohnheit, Versprechen, aus vielen anderen Motiven. Den gordischen Knoten, den Libertäre und Anarchisten durchschlagen müssen, ist die Lösung bzw. das Adressieren des verwickelten Problems der Herrschaftspermanenz. Kritik ist immer möglich. Was ist die Alternative? Wenn auch Demokratie Herrschaft bleibt, was ist in dieser Welt die Alternative? Sobald eine attraktive Alternative vorliegt, so meine Prognose, erübrigt sich das Argumentieren. So lange verstört Kritik, ja kränkt sie. 

Wie verhält es sich mit den (umfangreichen) Dienstleistungen, die der Staat anbietet, und dem Ausüben von Herrschaft? Gegensatz oder Gleichzeitigkeit? Stefan Blankertz wendet sich mit „Wider den Triumph repressiver Egalität“ gegen die scheinbar aus der Mode gekommene „soziale Gerechtigkeit“. Das repressive Element ist demnach elementarer Teil der lange Zeit als selbstverständlich angesehenen Wohlfahrtsstaatlichkeit. 

Damit sind wir bei den vielen Grautönen, während Libertäre dem Schwarz/Weiß einer sauberen, abstrakten politischen Theorie zuneigen. Ein Beispiel: Viele Aspekte der Demokratiekritik erscheinen schlüssig und sollten intensiv und breit diskutiert werden – mit dem Ziel, Verbesserungen anzustoßen. Herrschaftslosigkeit wird sich nicht erreichen lassen, keineswegs aus dem Stand und nicht als Folge einer Theorie. Der Diskurs ist der Weg und das (Zwischen)Ziel. Ein geeignete Prozess wird gesucht, der Experimentieren, Wettbewerb, Vielfalt, Verbesserungen erlaubt. Am Beispiel des Bildungssystems haben wir das exemplarisch in den Vincent-Sessions aufgezeigt in einer fiktiven Stadt mit starken freiheitlichen Fraktionen im Stadtrat. 

Für einen solchen Prozess und Ausweg, für einen ehrlichen, engagierten Diskurs – angesichts inzwischen nicht nur sichtbarer, sondern zunehmend vielstimmig öffentlich diskutierter, aber doch nicht akzeptierter Grenzen des Staates – steht für mich „Wider den Triumph repressiver Egalität“. Eines der besten Bücher seit langem.

Literatur: Stefan Blankertz: Wider den Triumph repressiver Egalität. Zur Anatomie gekränkter Herrschaft, Edition g. 129, BoD, Norderstedt 2023, 157 S., 10,00 Euro.