Jedem das Seine, jedem ein passendes Leben
Jedem das Seine, jedem ein passendes Leben

Jedem das Seine, jedem ein passendes Leben

Jedem das Seine, jedem ein passendes Leben

Remo Largo liegt in vielen Zimmern, in Buchform, als Lektüre von jungen Eltern.

Jeder Mensch ist ein Unikat, mit Sophokles: „Jedes Wesen kann nur in seiner Eigenheit gut sein.“ (S. 90) So lautet eine Schlüsselstelle in „Das passende Leben“, einem wirklich bedeutenden Buch.

Jeder Mensch ist individuell, unterscheidet sich von seinen Mitmenschen, besitzt spezifische Fähigkeiten und Bedürfnisse, unterschiedlich ausgeprägte geistige und körperliche Kompetenzen, hat spezifische Erfahrungen gemacht und so gelernt. Unser Leben ist ein endlicher Anpassungsprozess. Wir Menschen streben danach, unsere Bedürfnisse zu befriedigen und unsere Fähigkeiten zur Geltung zu bringen. Das gelingt uns mehr oder weniger in einer mehr oder weniger förderlichen Umgebung. Das Ziel eines jeden Menschen ist ein passendes Leben oder aber: ein passendes Leben ist das Resultat einer Übereinstimmung von Individualität mit der Umwelt: „Unsere Individualität zu leben ist eine Herausforderung, die uns ein Leben lang auf Trab hält.“ (S. 29)

Remo Largo (1943-2020) entwickelt in einer Lebensbilanz, über 40 Jahren Klinik und Forschung, Genetik und Soziologie verbindend, sein Fit-Prinzip, eben die Übereinstimmung von Individualität und Umwelt, die ein passendes Leben ausmacht. Dazu betrachtet der Kinderarzt die biologische, die historische und sozio-kulturelle Entwicklung des Menschen und der Menschheit, analysiert die Entwicklung der Individualität seit dem Heranwachsen im Mutterleib. Er beschreibt Grundbedürfnisse und Kompetenzen sowie die vom Menschen zunehmend gestaltete Umwelt.

„Jeder Mensch strebt danach, mit seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Je besser ihm dies gelingt, desto größer sind sein Wohlbefinden, sein Selbstwertgefühl und seine Selbstwirksamkeit.“ (S. 29) lautet die zentrale Aussage des einsichtsreichen Buches, das viele weitere lebenserfahrene Erkenntnisse bietet. In einer Misfit-Konstellation fühlen Menschen sich hingegen ohnmächtig und sie wirken angespannt, verunsichert, aggressiv oder passiv. Die Fit-Konstellation als Lösung besteht in einer Übereinstimmung zwischen Individuum mit seinen Bedürfnissen und der Umwelt. (S. 345) Hinweise wie sich eine Misfit- in eine Fit-Konstellation wandeln lässt werden im letzten Teil gegeben.

Für die großen, anonymen Gesellschaften seien wir eigentlich nicht geschaffen, ist Remo Largo überzeugt. Ein passendes Leben falle hier vielfach schwer. Eine Gemeinschaft vertrauter Menschen mit einem verlässlichen und tragfähigen Beziehungsnetz sei ideal, berge indes auch Belastungen. Stets versuchten Menschen im Einklang mit sich selbst und ihrer Umwelt zu leben. Das gelinge in überschaubaren, stabilen Beziehungen besser.

Kritisch darf man auf seine Bemerkungen zu Wirtschaft und zur Umwelt blicken, die von einigen Pauschalismen und gängigen Vorurteilen geprägt sind. Dazu gehört der „Wachstumswahn“ und das Unterschätzen der vielen positiven Effekte weltweiter Vernetzung und Arbeitsteilung, damit die Möglichkeit, sich eine lebenswertere Umwelt weltweit aussuchen zu können, ferner die Option, repressive Familien- und Sippenstrukturen verlassen zu können. Dass die Wirtschaft mit der Globalisierung „ein Monster geworden“ sei (S. 414), zu komplex zum Beherrschen, ist für einen Anhänger der Evolution ein bedauerliches Urteil und wäre mit ein wenig Lektüre über die unsichtbare Hand und die wunderschöne spontane Ordnung in Natur und in durch die Kooperation von Menschen zustande gekommene komplexe Systeme heilbar.

Allerdings biete der Kinderarzt eine plausible Erklärung, warum die Lektüre nicht helfen würde. Es ist zugleich vielleicht der Augenöffner für Liberale, die sich fragen, warum ihre guten Argumente nichts oder wenig bewirken: „Jemanden mit Argumenten von der Richtigkeit unserer Vorstellungen überzeugen zu wollen ist zumeist wenig erfolgreich…“ (311) Individuelle Erfahrungen seien weitaus wichtiger. Ideologien seien nicht die treibende Kraft von Massenbewegungen, sondern vielmehr Versprechungen, die Grundbedürfnisse der Menschen ausreichend zu befriedigen. (S. 312) Die politischen Vorstellungen eines Menschen entsprechen nach Remo Largo den individuellen Annahmen, wie sie ihre Grundbedürfnisse am ehesten befriedigen können. (S. 295) Deshalb würden Ideologen ständig die Hoffnung schüren, die Lebenssituation der Menschen werde sich verbessern, wenn man ihnen Gefolgschaft leiste.

Was folgt daraus für Liberale? Menschen sollten Freiheitserfahrungen machen. Die Alternative ist weitaus beschwerlicher, sie machen Erfahrungen in der Knechtschaft und wünschen sich dann Freiheit.

Remo H. Largo: Das passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können, Fischer Taschenbuch, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2020, 631 S., 15,00 Euro (die Seitenangaben beziehen sich auf die Kindle-Version)

Ergänzende Erkenntnisse, die es festzuhalten lohnt:

„Denken wir daran, dass die vielleicht größte Kraft der Menschen in ihrer Vielfalt liegt.“ (S. 130) Das bedeutet auch, den anderen so anzunehmen wie er ist.

– Spannender Abriss der Evolutionsgeschichte des Menschen und der Ausbildung seiner Fertigkeiten

Wir modernen Menschen gehen auf eine Gruppe von lediglich 10.000 bis 60.000 Menschen zurück, die von rund 200.000 Jahren in Ostafrika gelebt haben. Erst vor 7.500 Generationen haben unsere direkten Vorfahren sich mit einer Geschwindigkeit von 1 Kilometer pro Jahr über den ganzen Erdball ausgebreitet. Die soziokulturelle Evolution mit Ackerbau und Viehzucht begann erst vor 12.000 Jahren. Im Großen und Ganzen und was unser Gehirn betrifft sind wir die gleichen Wesen wie unsere Vorfahren vor 200.000 Jahren.

In den letzten 200 Jahren haben wir unsere Lebensbedingungen exponentiell verbessert: Ernährung, Gesundheit, Rohstoffe, Energie, Industrielle und Institutionelle Revolution, Wohlstand. Aber die moderne Gesellschaft habe mit der Arbeitsteilung und Anonymisierung den Menschen „sehr unselbständig gemacht.“ (S. 89)

– Heilsamer Abstieg

„43 Prozent der Kinder steigen ab“, sie haben als Erwachsene einen niedrigeren Status als ihre Akademiker- oder Manager-Eltern (S. 128) Und dieser Abstieg werde zu Unrecht als Versagen wahrgenommen statt als Ausweg aus einer falschen Karriere. Wie wahr: „Es hat immer wieder weitreichende nachteilige Folgen, wenn Menschen mit Hilfe von zusätzlicher Unterstützung, Privilegien und Netzwerken in gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellungen gelangen, wo sie mit Inkompetenz und falschen Entscheidungen großen Schaden anrichten.“ (S. 130)

– Bildungsreform notwendig

Remo Largo bietet beinahe eine Abrechnung mit unserem verfehlten Bildungssystem, welches die Bedürfnisse der Schüler nicht adressiert, weder individuell im Hinblick auf Begabungen und Entwicklungspfade, noch was die Entwicklungsbedingungen und die Lernumgebung betrifft, den Unterrichtsbeginn insbesondere in der Pubertät eingeschlossen. Im Grunde ist unser Bildungssystem im 21. Jahrhundert Ausdruck mangelnder Bildung derjenigen, die es geschaffen haben und erhalten. Im Grunde ist die staatlich organisierte, staatlich anerkannte Bildung ein fahrlässiger Umgang mit Menschen und ihren Bedürfnissen. Eine Begleiterscheinung der Missstände ist ein „allgemeiner Förderwahn“ (S. 284).

Wie viele andere Autoren plädiert Remo H. Largo dafür, statt Inhalte in die Kinder reinzustopfen, sie zunehmend selbst bestimmt Erfahrungen machen zu lassen. Das bedeutet, Kompetenzen entfalten zu lassen, statt vorgegebene Leistungen erbringen zu müssen. Denn nur selbstbestimmtes Lernen sei nachhaltig.

Anmerkung: Wir wissen aus von Largo nicht erwähnten Untersuchungen, dass von dem in der Schule vermittelten Wissen durchschnittlich nur ca. 8% des Lernstoffs dauerhaft hängen bleibt. Das liegt auch daran, dass neues an bestehendes Wissen angeknüpft werden muss. Was für eine ineffiziente und drangsalierende Methode!

Russ Roberts bemerkte in Econtalk, dass die Zertifizierung ein unzureichender Ersatz sei, sich mit den Menschen wirklich zu beschäftigen. Dazu passt: Softwareentwickler beurteilen sich längst nicht anhand von Zertifikaten oder Noten, sondern aufgrund von Fähigkeiten, Kompetenzen und realisierten Projekten. Die Verbindungen zu echtem Lernen liegen auf der Hand.

Unser Bildungswesen ist unzeitgemäß und ungeeignet für die Entwicklung freier Menschen. Es muss „von Grund auf erneuert werden.“ (S. 286) Eine Gefahr besteht allerdings: Es würden viel mehr selbständige Menschen die Schulen verlassen.

– Dezentrale, subsidiäre, naturnahe Strukturen

Einige Verbindungen zu den Überlegungen und Forderungen der echten Neoliberalen nach dem Zweiten Weltkrieg erlangen mit Remo Largo Bedeutung, darunter die Bedeutung des Gartens, der Lob des Schrebergartens, die Vitalpolitik, die Wertschätzung kleinräumiger bäuerlich-ländlicher Strukturen, die Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow wiederholt vorgetragen und in Aufsätzen und Artikel thematisierten. So schrieb Rüstow in Rede und Antwort, S. 287: „Der Garten ist der eigentliche Lebensraum der Familie. Der Garten bildet die eigentliche Vitalsituation der Familie, und die Vitalpolitik hat also zu einem der wichtigsten Gegenstände ihrer Betreuung den Garten.“ Das gilt sogar als Largo die Epigenetik thematisiert, den Einfluss von Umweltfaktoren auf molekularer Ebene.

– Bedeutung des Unterbewussten und die Existenz des freien Willens

Für Remo Largo sind menschliche Grundbedürfnisse tief in unserem Unterbewusstsein verankert und reichen weit in die Evolution zurück. Eine zentrale Rolle spielen soziale Anerkennung und sozialer Status. Das mache ein dichtgewobenes Netz aus zwischenmenschlichen Verflechtungen, gegenseitigen Abhängigkeiten und Interessen erforderlich. (S. 190) Zu unserem Wohlbefinden würden das Ansehen in der Familie, bei Freunden und bei Mitarbeitern beitragen. Die Stärke der Emotionen, die bei der (Nicht-)Entfaltung von Begabungen auftrete, weise darauf hin, wie wichtig die Selbstentfaltung sei.

„Für unser Wohlbefinden und Selbstwertgefühl ist letztlich nicht entscheidend, wie erfolgreich wir sind, sondern ob es uns gelingt, unsere individuellen Begabungen zur Entfaltung zu bringen. Darin besteht der eigentliche Antrieb der Selbstentfaltung und weit weniger in der sozialen Anerkennung, auch wenn man Letztere gern entgegennimmt.“ (S. 194f.)

Die Bedeutung des Unbewussten werden maßlos unterschätzt, auch im Hinblick darauf, wovon wir geleitet werden, unser Denken, Fühlen und Handeln. (S. 301) Und all das resultiere aus den „emotionalen, sensorischen und motorischen Erfahrungen, die wie während unseres Lebens machen.“ (S. 301) Von der Existenz des freien Willens ist Largo überzeugt.

– Individualität und Entwicklung

Bei der Zeugung entsteht eine einzigartige Genkombination von 35 Billionen Möglichkeiten. (S. 56) Kinder und Erwachsene suchen nach „einem Umfeld, in dem sie ihre Kompetenzen am besten zur Geltung bringen können.“ (S. 279)

Wir benötigen nach der Geburt 15 Jahre, in denen sich die Eigenschaften und Fähigkeiten eines erwachsenen Menschen herausbilden.

Leistung erbringen sei ein Grundbedürfnis. Leistung zeige den Stand des bereits erworbenen Wissens und der Fertigkeiten, um ein Ergebnis zu erzielen. (S. 196) Für das Wohlbefinden benötigten die meisten Menschen keine herausragenden Leistungen, sondern den Einsatz ihrer Fähig- und Fertigkeiten.

Menschen benötigen emotionale Sicherheit, soziale Anerkennung und eine entsprechende Stellung in einer Gemeinschaft. Das wird mit der schwächer werdenden sozialen Klammer von Familie und Lebensgemeinschaft in einer anonymen Großgesellschaft schwerer.

– Zurück in die Zukunft?

Für die Massengesellschaft seien wir eigentlich nicht gemacht, mit ihren anonymen Beziehungen. Eine Herausforderung sei der massive Umbruch der Familien, die vielfach keine Stabilitätsgemeinschaften mehr seien.

Ist das möglicherweise ein Fingerzeig auf eine kommende Korrektur: „In der modernen, hochkomplexen Gesellschaft haben riesige, anonyme staatliche und wirtschaftliche Einrichtungen Aufgaben übernommen, die in der Lebensgemeinschaft von wenigen hundert Menschen erbracht wurden.“ (S.332)

Das Vertrauen in den Staat schwinde. Die existentielle Abhängigkeit der Menschen von Staat und Wirtschaft verunsichere – von der Krippe über die Schule bis zum Altersheim. Mangels emotionaler und sozialer Stabilität komme es zu Ab- und Ausgrenzungen, Populisten würden das ausnutzen. Kollektiv unbefriedigte Grundbedürfnisse seien die eigentliche Ursache. Eine identitätsstiftende Kultur fehle.

„Moralvorstellungen sind immer Ausdruck der kulturellen Gegebenheiten und können nie einem allgemeinen Wahrheitsanspruch genügen.“ (S. 241)

Remo Largo gehört zu denen, die einen Trendbruch in der Entwicklung der Menschen erwarten. Das bedeutet eine Abkehr von immer größeren, hierarchischen, zentralistischen Organisationsformen insbesondere in politischer Hinsicht.