Quergelesen – Rezensionen von Christopher Clarks Frühling der Revolution
Beeindruckende Eindrücke aus einem Rezensionscluster ausgewählt. Ein Buch und Rezensenten, die etwas zu sagen haben und zu denken geben.
Zunächst ein bedenkenswerter, zeitlos gültiger Absatz aus einer Rezension des neuen großen Werks von Christopher Clark über die Freiheitsrevolution 1848/49 von Andreas Fahrmeir in sehepunkte:
„Clark erklärt den Erfolg des Anfangs der Revolution vor allem damit, dass in der überdeterminierten Krisensituation von 1848 eine Revolution aus allen möglichen Gründen ausbrechen konnte: wegen eines Witzes, eines zufälligen Pistolenschusses oder der Ankündigung einer eigentlich gar nicht geplanten Versammlung. Das führte selten zu stabilen Strukturen. Dagegen konnten die alten Gewalten dort, wo sie noch existierten (also – außerhalb Frankreichs – fast überall), den Zeitpunkt des Gegenschlags wählen und ihn mit großer Brutalität ausführen, zumal ihnen die wachsende Furcht in der Bevölkerung entgegenkam. Das ist insofern überraschend, als die regierenden Monarchen und ihre Berater bei Clark im Vorfeld der Revolution ziemlich schlecht wegkommen: Schließlich ließen sie die Krisen nicht nur eskalieren, sondern nahmen sie teilweise gar nicht wahr.“
Und Susanne Kitschun schreibt in ihrer Rezension über dasselbe Buch in sehepunkte:
„Wichtige Auslöser lagen für ihn zusätzlich zu grundlegenden Ursachen wie politischen Ideen und unmittelbaren Anlässen in einer „mittlere[n] Ebene der Kausalität: das Anwachsen der politischen Spannung, die Verhärtung der Sprache, der Zusammenbruch eines Konsenses, und die Erschöpfung der Kompromissbereitschaft, das Aufkommen von Fallstricken – kurz: eine politische Dynamik, die […] in Monaten und Wochen gemessen wird“ (411).“
Außerdem ist da ein Hinweis auf moderne Geschichtswissenschaft sowie eine vorbildliche, Komplexität anerkennende Betrachtung der Welt:
„Clark schreibt bewusst gegen ein solches vereinfachendes Bild, denn er will zeigen, dass es dem „Archipel aus Argumenten und Gedankenketten“ (23), in dem sich die Europäer in den Revolutionsjahren zurecht finden mussten, nicht gerecht würde. Er will der damaligen „verwirrenden Vielfältigkeit“, die von der „unvorhersehbaren Interaktion so vieler Kräfte“ (17) noch verstärkt worden ist, nur in Maßen ein retrospektives Ordnungsmuster abgewinnen. Ein Grund dafür ist, dass er auf Parallelen aufmerksam machen will, die er zwischen damals und heute sieht.“
Der Absatz stammt aus der Rezension von Dieter Langewiesche in sehepunkte zum selben Buch genauso wie dieser Eindruck:
Clark „habe das „Gefühl“, „die Menschen von 1848 könnten sich in uns wiederfinden“, weil wir in einer ähnlichen „‚Polykrise'“ leben und in unseren Reaktionen darauf ebenso unsicher seien, wie die Menschen damals (1024).“
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