Vom Mittelalter lernen: Klima und Umwelt angemessen betrachten
Vom Mittelalter lernen: Klima und Umwelt angemessen betrachten

Vom Mittelalter lernen: Klima und Umwelt angemessen betrachten

Ein a-historisches Verhältnis zum Klima und dessen Wandel dominiert seit einem halben Jahrhundert die Medien. Was heute als Natur bezeichnet wird, galt im Mittelalter als Wildnis. Das wäre nach wie vor ein treffender Begriff für romantische und menschenfeindliche Umweltfiktionen. Der heute stilisierte Kampf um die Natur war vor mehr als 500 Jahren ein Kampf mit der Natur. Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist längst nicht mehr Teil seiner Umwelt, die nicht einmal mehr als sein Milieu angesehen wird. Diese Entwicklung begann Mittelalter.

Die Lektüre des Standardwerks „Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander“ des renommierten, leider verstorbenen Historikers Ernst Schubert bereitet in mehrfacher Hinsicht Freude: Bildung und Abbau von Vorurteilen über das bemerkenswert pluralistische Mittelalter, lebendiges Anschauen des mittelalterlichen Lebens und nicht zuletzt ein besseres Verständnis unserer heutigen Welt. Besonders aufschlussreich ist es, das ausführlich behandelte Thema Umwelt, Klima eingeschlossen, vor dem Hintergrund der aktuellen medialen Klimakrise zu studieren.

Geschichte hilft, gegenwärtige Fragen zu präzisieren. Das kann auch deshalb gelingen, weil Ernst Schubert selbst Bezüge herstellt – darunter diese prägnante Feststellung:

Daß Ideologie selbst in der Kümmergestalt der ‚political correctness’ Betonierungen geistiger Landschaften sind, zeigt sich im aufwendigen Schutz einzelner Tierarten.“ Und er erläutert seine treffende Einschätzung mit dem Hinweis auf das selektive, isolierte Denken: „Unsere mittelalterlichen Vorfahren hätten sicherlich gegen den Schutz nichts einzuwenden gehabt, aber sie hätten fassungslos gefragt, welches Recht wir Heutigen uns nehmen, jene Rinder zu keulen, die nichts anders getan haben, als das ihnen von der Mitkreatur Mensch gereichte Futter zu fressen.“ (129)

Angemessene Begriffsbildung

Für die Menschen des Mittelalters schloss die Natur selbstverständlich den Menschen mit ein. (121) Einen Gegensatz im Umweltbewusstsein zwischen Mensch und Umwelt zu konstruieren sei unpassend. Umwelt bezeichnet die Umgebung des Menschen, in der er lebte und die er formte. Die unberührte Natur – die Wildnis – ging  bereits im Mittelalter verloren und zwar durch Siedlung, Holzeinschlag und Rodung, Bau von Transportwegen, Trockenlegen von Sümpfen und vielem mehr. Wie heute wurde bereits im Mittelalter die entfremdete Natur zum Vergnügen des Stadtbürgers. Der Wilde und das Wilde wurden stilisiert. Ernst Schubert konstatiert, Umwelt hatte schon immer für Menschen verschiedenen Gesichter, „quer durch die Zeiten, Räume und sozialen Schichten.“ (12)

Historische Dimensionen des Klimas

Die mittelalterliche Warmzeit reichte von 500 bis 1200 und war rund 1 Grad wärmer als das Klima um das Jahr 1900. Dementsprechend kleiner waren etwa die Gletscher Islands als heute. Die Berichte über die unberechenbare Natur umfassen zahllose Einträge in Chroniken, darunter 1504 am Niederrhein blühende Blumen sowie Dächer durchschlagende Hagelschauer.

Der Meeresspiegel stieg bis ins Mittelalter um 2 Meter, wohlgemerkt seit der Antike. Die Folgen waren weitreichend und teilweise dramatisch: Ganze Städte verfielen wirtschaftlich und politisch, weil ihnen durch die Versandung des Hafens die wirtschaftliche Grundlage fehlte. Andere Städte stiegen auf, darunter Venedig. Die Menschen passten sich an.

Das galt auch für langfristige Klimaänderungen, die sich zugleich als befristet erwiesen. Dazu gehörten gewaltige Sturmfluten an der Nordsee. Die katastrophalen Überschwemmungen ließen westfriesische Inseln und den Jadebusen entstehen. Dagegen nehmen sich heutige Naturkatastrophen als geradezu harmlos aus. Das liegt auch am Wohlstand als bestem Schutz. Die Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit lernten damit umzugehen, sich an Wetterextreme anzupassen, an Hitze und der problematischeren Kälte. Und bei allen Opfern, die Dinge gingen vorüber. Ein Recht auf Unversehrtheit wäre irreal.

Menschen scheinen heute geprägt zu sein durch Ungeduld, ad hoc Verfügbarkeit, durch einen Mythos der Machbarkeit, darunter die vermeintliche Fähigkeit die Erde abkühlen zu können. Das Leben im 21. Jahrhundert wird selten in größere, geschweige denn Jahrhunderte währende Kontexte eingebettet. Nur vom Standpunkt hier und heute erscheinen die Anmaßungen im jetzt und für morgen als Gebot des Handelns.

Holz, der Rohstoff des Mittelalters

Wald und Holz besaßen eine herausragende Bedeutung im Mittelalter. Umweltnutzung und Umweltzerstörung gingen Hand in Hand. Urwald und Unwald, extensive Nutzung im Hochmittelalter sowie intensive Nutzung im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, folgten als Epochen aufeinander. Wirtschaftsgeschichte kann kaum von Umweltgeschichte getrennt werden.

Im Wald trafen Jagdinteressen und Viehhaltung sowie das Nutzen als Anbaufläche aufeinander. Der Wald war Humus- und Nahrungsquelle, diente als Brennholz-, Werkstoff und Bauholzlieferant. Holz war das Element nahezu aller, alltäglicher Gegenstände bis hin zu Nägeln und Trinkgefäßen.

Die Menschen fanden Regelungen zur Nutzung des Waldes. Eine Regulierung setzte erst Anlass bezogen ein, wenn es notwendig wurde, weil die Ressource knapp wurde. Das konnte so früh sein wie 1294 in Nürnberg, das eine der ältesten Waldordnungen erließ zum Schutz vor Raubbau des Reichswaldes. Wer Wald besaß, hatte einen Schlüssel zur wirtschaftlicher Entwicklung und Macht in den Händen.

Holz war der Rohstoff des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Mit der Entstehung und Ausbreitung von Städten entstand in deren Umkreis eine Waldarmut. Holz bildete die Grundlage der Urbanität, so Ernst Schubert, und war für das Handwerk bedeutsamer als heutzutage Öl. (51) Allein der Bau der Hamburger Petrikirche verschlang einen großen Wald und das Fundament der Münchener Frauenkirche benötigte 20.000 Stämme. Der Holzbedarf veränderte den Wald, der zunehmend aus schnell wachsenden Nadelhölzern bestand. 1369 erprobte Peter Stromer erfolgreich die künstliche Tannensaat im Nürnberger Reichswald. Das gelang auch bei Laubbäumen. Gleichwohl gab es um das Jahr 1500 weitaus weniger Wald als heute. Schon in der frühen Hanse wurde Holz europaweit gehandelt.

Die Geschichte der mittelalterlichen Stadt ist zugleich die der Veränderung des Biotops, der Veränderung von Flora und Fauna. Umweltschutz diente dem Schutz des Menschen. Bestandserhalt und Nachhaltigkeit dienten wie Nahrungssicherung dem Menschen. Die Lüneburger Heide entstand an Stelle des verbrauchten Waldes. Eine vermeintlich naturbelassene Umwelt war und ist unter Menschen eine Konstruktion.

Alltagsgeschichte lehrreicher als politische Geschichte

Ähnlich wie Holz besaß Wasser eine enorme Bedeutung – als Quell des Lebens, als geographisch bedeutsamer Ordnungsfaktor, als Transportmittel, als natürliche Kanalisation, als Energie-Erzeuger bei Mühlen, als Siedlungsmittelpunkt und mit den Auswirkungen von Versandung und Verlandung.

Die Geschichte des Alltags von Ernst Schubert ist gleichermaßen intensiv wie detailreich, bietet viele lebendige Beispiele und Einblicke in eine Welt, die uns gerade aufgrund der praktizierten Vermittlung in der Schule und in Filmen nicht fremder sein könnte. Wussten Sie, dass die Industrielle Revolution zunächst weitgehend mit den Mitteln und Maschinen des Mittelalters erfolgte?

Wer über die Alltagsgeschichte von Umwelt und des hier nicht thematisierten menschlichen Miteinanders schaut, dem wird die Bedeutung von Alltagsgeschichte bewusst. Das gilt zumindest als eine wesentliche Ergänzung der herkömmlichen, nach wie vor im öffentlichen Bewusstsein dominierenden politischen Herrschaftsgeschichte. Alltagsgeschichte kann sogar bedeutsamere Perspektiven und Lehren bieten als die Konzentration auf die wenigen, letztlich stets verherrlichten Mächtigen. Tatsächlich resultiert der Fortschritt der Geschichte kaum aus Leistungen einzelner, sondern ist vielmehr regelmäßig das Resultat kollektiver Anstrengungen.

Zeitlose Lehren

Noch mehr als „Sternstunden statt dunkles Mittelalter“ von Thoomas E. Woods bietet „Alltag im Mittelalter“ jede Menge Ansatzpunkte, um Mythen aufzuklären, darunter das vermeintlich abergläubische Mittelalter. Tatsächlich saßen die Menschen schon damals Fehlern der Wissenschaft auf (278). Es waren die Intellektuellen, die tatsächlich Aberglauben propagierten, z.B. Kirchenleute, die einen Kometen als Zeichen Gottes deuteten. Normale Menschen ließen sich weniger täuschen als angenommen und behielten ein unverkrampftes Verhältnis zur Natur.

 

Literatur: Ernst Schubert: Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Theiss, 3. Aufl. Darmstadt 2019 (1. Aufl. 2002), 423 S.