Verfassungsgeschichte kann aufschlussreich und spannend sein. In einer Korrespondenz wies mich Hubert Milz, mit einem Beitrag zu Piketty Gastautor bei FFG, auf den nachfolgenden Sachverhalt zu Artikel 19 Grundgesetz hin, den er ausführlicher in einem Vortrag dargelegt hat. Ich gebe seine Ausführungen nachfolgend in leicht modifizierter Form wider:
Die ersten zwanzig Artikel des deutschen Grundgesetzes (GG) sollten nach Maßgabe der Gründerväter der Bundesrepublik Deutschland die Waffen der Bürger gegen ihre Obrigkeit sein. Das gilt insbesondere für die ersten zehn Artikel und Artikel 19. Es handelt sich um Verhaltensregeln für den Staat und Rechte der Bürger gegen den Staat, die der Bürger mit Hilfe des Artikels 19 – der „Fußfessel für den Gesetzgeber“ – gegen die Obrigkeit erfolgreich einfordern und verteidigen können sollte.
Artikel 19 Absatz 1 GG lautet: „Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.“
Und Absatz 2 lautet: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“
Aus verschiedenen Aufsätzen Hayeks (Freiburger Studien und Neue Freiburger Studien) lässt sich ableiten, dass Hayek die ersten zehn Artikel des GG und ganz besonders den Artikel 19 ähnlich sah wie oben thematisiert. Hayek konstatierte zugleich, dass die Bestimmungen des Artikel 19 GG nicht gelebt worden sind. Hayek gibt explizit der Juristin Hildegard Krüger recht, dass Artikel 19 GG der Eckstein des Rechtsstaates sei, der gleich einer Sammellinse die einzelnen Prinzipien des Rechtsstaats bündelt. Weiter führt Hayek aus, dass er folgendes glaubt: Hätte Artikel 19 Absatz 1 GG die Bedeutung gewonnen, die ihm ursprünglich zugedacht war, nämlich Grundrechte nur durch allgemeine Regeln einschränken zu dürfen, dann hätte die Bundesrepublik Deutschland ein wirklich freier Rechtsstaat werden können. Hayek führt aus, dass man, um eine freie Gesellschaft zu sichern, kaum mehr benötige, zumal Preis-, Mengen- oder Zulassungsbeschränkungen unzulässig würden, da diese mit Artikel 19 Absatz 1 GG nicht vereinbar sind. Leider habe der Artikel aber diese Bedeutung nicht gewonnen.
Die Mitglieder des Parlamentarischen Rats Thomas Dehler, Ludwig Bergsträsser und Carlo Schmidt, um nur ein paar der prominenten Fürsprecher zu nennen, legten Wert auf gerade diese „Fußfessel des Gesetzgebers“; darüber hinaus wollten sie diese Fußfessel in Verbindung setzten mit Artikel 123 GG „Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestages gilt fort, soweit es dem Grundgesetze nicht widerspricht.“ Nach der Verabschiedung und Inkrafttreten des GG wurden die althergebrachten Prozessordnungen – auch die Strafprozessordnung (StPO) – im Bundestag verhandelt und im Herbst 1950 wurde festgestellt, dass sie weiter gelten und nicht geändert werden sollen, weil sie ohnehin galten. Gegen diese „neue“, aber eben doch eigentlich „alte“, StPO wurde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verhandelt, wegen Verstoßes gegen Artikel 19 GG in Verbindung mit Artikel 123 GG. Das BVerfG verwarf die Klage mit Urteil vom 10.02.1953.
Die Auslegung des Artikel 19 im Urteil des BVerfGs aus 1953 hat diesen Artikel als Waffe des Bürgers stumpf gemacht; denn nach dem Willen des Parlamentarischen Rats sollte dieser Artikel dem Bürger die Möglichkeit geben, seine Rechte einzufordern und die Machthaber in die Schranken weisen zu können. Seit den Tagen jenes Urteils behandelte das BVerfG alle Beschwerden wegen Verstoß gegen Artikel 19 GG mit dem Verweis auf die ständige Rechtsprechung seit jenem Urteil und verwarf die Verfassungsbeschwerden, die auf Artikel 19 GG basierten.
In diesem entscheidenden Punkt wird das GG gegen den Bürger eingesetzt bzw. mittels der juristischen Methodenlehre ausgelegt: „Die Bürger haben gegenüber ihrem Staat ein Recht auf Recht, das allerdings vom Verfassungsgericht bisher nicht anerkannt wurde.“ urteilte Karl A. Schachtschneider in „Die Rechtswidrigkeit der Euro-Rettungspolitik“.