Was man sieht und was man nicht sieht: zur Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft
Was man sieht und was man nicht sieht: zur Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft

Was man sieht und was man nicht sieht: zur Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft

Was man sieht und was man nicht sieht: zur Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft

Strategische Vorausschau ist in Mode. Strategische Vorausschau wird vor allem im staatlichen Sektor durchgeführt, in der EU, von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ verankert, von den Ressorts, von Behörden und dem Staat nahestehenden Nichtregierungsinstitutionen, weltweit zunehmend verbreitet.

Die Soziale Marktwirtschaft ist weniger en vogue, zumindest in ihrer klassischen Form. Die Formel dient indes als zeitlose Bezeichnung der seit 1948 fundamental veränderten deutschen Wirtschaftsordnung. Die real existierende Soziale Marktwirtschaft lässt sich schwer mit den Leitgedanken der Gründerväter und Patenonkel in Einklang bringen, ihre ausdrückliche Ablehnung des Wohlfahrtsstaates eingeschlossen.

„Soziale Marktwirtschaft in der digitalen Zukunft“ ist ein Bericht über ein strategisches Vorausschauprojekt des BMWi, der in der Reihe „Wettbewerb und Regulierung von Märkten und Unternehmen“ 2023 in einem Umfang von 441 Seiten erschienen ist. Die sechs Autoren sind überwiegend Ökonomen, der Ansatz umfasst auch Technologie- und Rechtsexpertise. Im Mittelpunkt stehen erwartete Folgen der Digitalisierung für die Soziale Marktwirtschaft bis 2035 und insbesondere das Staatshandeln.

Strategische Vorausschau

Der Begriff, nachfolgend auch als SV abgekürzt, wird eingangs nicht erläutert und es ist nicht ganz klar, wer wann und warum diesen Bericht initiiert hat. Die Autoren verantworten offenbar gemeinsam die 12 Kapitel und 6 Anhänge genauso wie den zuvor unternommenen Vorausschauprozess. Ergebnisse sind Roadmaps, also Planungen zum Erreichen von Zielen, zu acht priorisierten Schlüsseltechnologien, und vor allem sechs konstruierten Szenarien, die jeweils aus Annahmen und deren Begründungen, Wirkungen und Handlungsoptionen bestehen.

Zum Begriff ergänzend:

Die Bundesregierung sieht in Strategischer Vorausschau „die Möglichkeit, das eigene Handeln krisenfester zu machen und die Zukunft nach den eigenen Vorstellungen gestalten zu können.“ In einem konzisen Methodenhinweis heißt es anschließend, Ziel sei es „verschiedene Perspektiven auf Zukunftsthemen zu bündeln und alternative Zukunftsbilder sowie konkrete Handlungsoptionen zu entwickeln.“

Ein umfangreiche Studie zur „Institutionalisierung von Strategischer Vorausschau als Prozess und Methode in der deutschen Bundesregierung“ hat das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI auftragsgemäß mit Datum Juni 2022 vorgelegt (Fraunhofer). Darin wird eingangs die als weithin erforderlich angesehene „Stärkung der Kapazitäten für langfristiges Denken und Handeln“ betont und darauf hingewiesen, dass es bisher „allzu oft bei der bloßen Vorausschau“ bleibe, während die „Verknüpfung von SV mit strategischer Politikformulierung und politischer Planung“ meist ausbleibe.

Eine kompakte SV-Erläuterung bietet das BMZ, das auf die systematische Beschäftigung mit möglichen zukünftigen Entwicklungen hinweist, um besser auf die Zukunft vorbereitet zu sein, ohne indes Vorhersagen zu machen. „Denken auf Vorrat“ ist eine gerne verwendete Formulierung.

Kurz: SV ist demnach Denken in Alternativen über heute als relevant erachtete Zukunftskonstellationen in 10 bis 15 Jahren.

Möglichkeiten und Grenzen:

Strategische Vorausschau ist vor allem ein Kreativwerkzeug, aber kein Mittel, um substanziell mehr über die Zukunft zu erfahren als man bereits weiß. Das liegt zunächst daran, dass vorhandenes Wissen zusammengetragen und strukturiert wird. Implizite und explizite Annahmen sind darin enthalten genauso wie Präferenzen. Vorteilhaft ist, dass verschiedene Perspektiven und das Fachwissen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengetragen werden können. Nachteilig ist, dass keine Analyse zukünftiger Entwicklungen vorgenommen wird. Das wäre bei dem üblichen Zeithorizont von 10 bis 15 Jahren ohnehin ein aussichtsloses Unterfangen, da Komplexität und Dynamik zu groß sind. Historische Beispiele können das illustrieren: Wer hätte 1975 die Implosion des Ostblocks und der DDR binnen 15 Jahren vorhergesagt? Wer hätte 1900 die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg prognostiziert? Wer wäre in der Lage gewesen, die Umbrüche im Musikgeschäft (Streaming) durch die Apps im Apple Store mehr als ein Jahrzehnt zuvor vorherzusagen und wer hätte vor dem Durchbruch des Internets Amazon, Facebook und Google als globale Alltagsdienstleister erkannt? Damit besitzt SV als „Instrument zur Orientierung“ (S. 9) zwar einen Wert, allerdings eng begrenzt.

Zugespitzt handelt es sich insofern bei dem Bericht „Soziale Marktwirtschaft in der digitalen Zukunft“ um staatliche Planung von Regulierung mit Daten von 2019.

Kritische Anmerkungen:

Dementsprechend enthält das längliche Kapitel über die „Soziale Marktwirtschaft im Wandel der Zeit“ mit über 40 Seiten Text naturgemäß keine neuen Informationen oder Akzente. Die deskriptive Darstellung erweckt den Eindruck, die Entwicklung sei gleichermaßen alternativlos wie das staatliche Handeln bestmöglich erfolgt. Das erinnert an den langjährigen Staatsekretär im Bundeswirtschaftsministerium Otto Schlecht, der als „Inkarnation der beweglichen Grundsatztreue“ (Horst Siebert) galt.

Der normative Ansatz wird jenseits einer eher marktkritischen und staatsfreundlichen Haltung im abschließenden Zwischenergebnis deutlich: Eine der größten Herausforderungen der heutigen Zeit stelle „zweifelsohne“ die Bewältigung bzw. die „möglichst weitgehende Verhinderung der Klimaerwärmung dar.“ Gegenstand des Berichts ist indes die Digitalisierung.

Rückwärtsgewandt sind dementsprechend die aus der Forschungsliteratur der letzten 30 Jahre generierten Trends mit Schlagwörtern wie „Klimawandel-Eindämmung“ und „Geschlechts-Lohnlücke“ (S. 67, 72). Strategische Vorausschau erscheint wesentlich als kontraintuitiver Ansatz – begrifflich auf die Zukunft gerichtet, aufgrund rasch veralteter Daten und narrativer Trendfortschreibungen grundsätzlich rückwärtsgerichtet.

Hilfreich im Sinne eines Handbuchs könnten die zusammengetragenen Informationen zu Technologien (Steckbriefe) mit Einschätzungen und die bisherige Anwendung sein: Autonome Systeme, Big Data, Blockchain, Digitale Plattformen, Industrie 4.0, Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz, Quantencomputer. Allerdings können Experten nicht den Innovationsprozess voraussehen, den Unternehmen auf Märkten mit der Nutzung der Produkte durch Unternehmen, Haushalte und auch den Staatsapparat in einem komplexen Prozess von Versuch und Irrtum, bei dezentraler Koordination emergent entstehen lassen. Hier gilt Amaras Law: Wir tendieren dazu, die kurzfristigen Folgen einer Technologie zu überschätzen und die langfristigen Folgen zu unterschätzen. Dementsprechend deskriptiv und allgemein bleiben die Schlüsselfaktoren etwa im Abschnitt „Wirtschaft“ „Ökosysteme digitaler Innovationen“ und ihre Ausprägung (S. 180). Die thematisierte Komplexität muss in der SV methodisch zwangsläufig auf plausible Simplizität reduziert werden. Annahmen über die Realität und die dahinter liegenden Modelle bleiben unbehandelt und unüberprüft.

Das Deskriptive gilt auch für die sechs Szenarien und die abschließende übergreifende Perspektive. Mit einer qualitativen Analyse, die quantitativ illustriert wird, ist es nicht anders möglich als Szenarien, im Grunde hypothetische, als plausibel erachtet oder gewünschte Konstellationen mit angenommenen linearen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen darzustellen. Das geschieht hier u.a. mit Blick auf angenommene, sich entwickelnde und zu regulierende Marktmacht, für einen Systemwettbewerb zwischen China und der EU einerseits und einen Wettstreit um Technologieführerschaft mit China als Sieger andererseits. In einem weiteren Szenario wird angenommen, dass das Internet der Dinge wesentlich aufgrund von Daten- und Verbraucherschutz akzeptiert werde.

In der Verbindung mit der Sozialen Marktwirtschaft werden im Fazit die „wichtigsten Aspekte“ (S. 402), zumindest nach Einschätzung der Autoren, vergleichsweise sehr knapp betrachtet: Innovations- und Industriemodell digitale Wirtschaft, Wettbewerbsschutz und betriebliche Mitbestimmung.

Methode und ministerielle Perspektive lasse vor allem zwischen den Zeilen Raum für ein anderes Verständnis der Marktwirtschaft als „innovism“, um den von Deirdre McCloskey präferierten Begriff anstelle von „capitalism“ zu verwenden. Komplexe dynamische Systeme wie die Marktwirtschaft sind langfristig auch technologisch konkret nicht antizipierbar. Immerhin lassen sich Trends betrachten und fortschreiben. Das ist hilfreich, um über grundlegende, vielleicht strategische Aspekte nachzudenken. Und diese vergleichsweise einfache Methode kann für das vergleichsweise statische Regierungshandeln nützlich sein, das indes mit dem dynamischen Wandel Schritt halten sollte. Ein umfassendes Brainstorming, wie es die SV hier bietet, leistet einen Beitrag, der angesichts des Umfangs und mancher Wortwolken nicht überschätzt werden sollte. Das gilt umso mehr als die Folgen der eigenen geplanten Interventionen mit SV nicht abgeschätzt werden können.

Literatur: Dirk Holtmannspötter et al.: Soziale Marktwirtschaft in der digitalen Zukunft. Foresight-Bericht – Strategischer Vorausschauprozess des BMWi, Nomos Verlag, Baden-Bande 2023, 441 Seiten, 104,00 Euro.