Wehrhafter Liberalismus
Wehrhafter Liberalismus

Wehrhafter Liberalismus

Frieden ist die Existenzgrundlage menschlichen Daseins. Das gilt für das Zusammenleben von Menschen in einem Land genauso wie politische Grenzen überschreitend. Ein friedliches Zusammenleben ist eine existenzielle Voraussetzung für Leben, Gesundheit, Eigentum, für kulturellen Austausch und Arbeitsteilung, für mehr Glück und weniger Sorgen – um sich, seine Familie und viele andere Menschen. Wer Menschen kennt, die Krieg erlebt haben, weiß um das Leid und Elend als Wesensmerkmale von Kriegen.

Vor fast 100 Jahren schrieb Ludwig von Mises in seinem Buch „Liberalismus“: „Es wird (…) noch immer nicht beachtet, daß ewiger Frieden nur durch restlose und allgemeine Durchführung des liberalen Programms erreicht werden kann“. Immanuel Kant hatte in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ bekanntlich die bis heute gültige Regel formuliert: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.“

Seit dem 24.02.2022 wird in Europa für die gesamte Welt sichtbar gegen beide Erkenntnisse verstoßen. Der Staatsführer Russlands, Wladimir Putin, hat einen Angriffskrieg gegen die Ukraine befohlen, strebt die Absetzung der ukrainischen Regierung an, will das Land und die Menschen zu einem, zu seinem Vasallenstaat machen. Während er bereits zuvor erklärte, der Zusammenbruch der Sowjetunion ist die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, ging er in seiner faktischen Kriegserklärung weiter. Die territoriale Ausdehnung des Zarenreichs ist Ziel seines Expansionsstrebens. Wenn die Ukraine der Auftakt ist, dann würde Putin sich allein in Europa die drei baltischen Staaten, Finnland und Polen sowie Weißrussland einverleiben. Außerdem drohte er mit nuklearen Konsequenzen, falls im Gegenzug seines Angriffskrieges, ein Land Russland angreifen würde.

Kann der Liberalismus als Weltfriedensordnung etwas zum Krieg sagen?

Ja!

  1. Zunächst darf die von Liberalen geforderte Nicht-Einmischung nicht mit Isolationismus verwechselt werden. Die Außen- und Sicherheitspolitik der Zurückhaltung (Restraint) zielt primär darauf ab, selbst kein Unheil zu stiften. Indes handelt es sich nicht um ein absolutes Verbot des Kriegführens. Verteidigung, sogar als präventive Notwehr, kann vom Völkerrecht gedeckt sein. Es kommt stets auf den konkreten Kontext an.
  2. Liberale Außenpolitik ist nicht pazifistisch (Prinzipien liberaler Außenpolitik habe ich in einem umfangreichen Aufsatz entwickelt). Krieg kann nur das letzte Mittel sein, um Frieden wiederherzustellen. Wehrhaftigkeit ist ein geeignetes Mittel zur Abschreckung, zur Selbstbehauptung und zum Durchsetzen von Recht, das die Fähigkeit zu zwingen erfordert. Auch die UN-Charta anerkennt mit Artikel 51 das „Recht zur Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs“.
  3. Für Liberale ist Krieg zwar das letzte Mittel, nachdem die Politik alle übrigen Mittel ausgeschöpft hat, aber gerade nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Krieg lässt sich weder allein politisch, noch moralisch, kulturell, historisch und auch nicht ökonomisch legitimieren, sondern allenfalls durch die deutliche Begrenzung und Verringerung von Gewalt. Denn das Ziel des Kriegs muss der Frieden sein.
  4. Eine liberale Friedensordnung betont die Regeln des Zusammenlebens und benennt unmissverständlich die Konsequenzen, wenn jemand gegen die Regeln verstößt. Die Konsequenzen müssen massive Anreize respektive Sanktionen enthalten, diese einzuhalten. Das erfordert wiederum wehrhafte Mittel und eine starke Friedenskoalition.
  5. Frieden bedarf wie Freiheit der ständigen Hege und Pflege. Das fängt bei den Bürgern und ihrem Friedenswillen an und endet im eigenen Staat bei der Kontrolle und Sanktionierung der Staatsführung. Liberale wissen, dass keine Ordnung per se und unbegrenzt hält. Und sie wissen, dass Frieden mehr als nur eine sicherheitliche, militärisch geschützte Lebensgrundlage ist. Weltweit offene Gesellschaften, das Kennenlernen anderer Völker und Kulturen, globale Arbeitsteilung sowie ökonomische Leistungsfähigkeit und Wohlstand für alle gehören dazu.

Was lässt sich aus liberaler Perspektive zum Angriffskrieg gegen die Ukraine sagen?

Zunächst darf man auch als Liberaler der mutigen, tapferen Landesverteidigung der Ukrainer gegen eine hoch gerüstete Angriffsmaschinerie Respekt zollen. Das schließt den zivilen Widerstand ein – exemplarisch das Beispiel der Straßenkonfrontation einer einsamen Frau mit russischen Soldaten, zudem die jungen Familienväter, die ihre Familien zur Grenze in Sicherheit bringen und zum Kämpfen zurückkehren sowie die prominenten Personen, die ihren Mann stehen und nicht fliehen. Auch Ereignisse wie die Geburt des Mädchens Mia in einer U-Bahn-Station in Kiew gehören dazu.

Dann ist die weltweite Solidarisierung mit den Menschen in der Ukraine ein Signal, das Hoffnung über den Tag und den Krieg hinaus macht. Das weltweite Einfordern von Frieden und Zurückweisen des Aggressors, die bemerkenswert raschen und relativ weitreichenden, noch intensivierbaren Sanktionen, die Geschlossenheit des Westens, die Waffenlieferungen einiger Staaten, das Spendensammeln, das Kappen russischer Propagandamöglichkeiten und unendliche viele kleine Aktivitäten mehr sind nicht zuletzt Ausdruck eines Eintretens für eine friedliche Gesellschaft. Deutlich wird, dass es um mehr als staatliches Handeln geht und längst spontane private Hilfe zur Selbsthilfe global eine Rolle spielt.

Aktuell und mittelfristig sind offenkundig die Organisation der Verteidigung Europas, die Eindämmung Putins und eine perspektivenreiche Betrachtung der Lage wesentlich. Erste Truppenverlegungen nach Mittel- und Osteuropa können nur ein Auftakt sein. Vorbereitungen für eine langfristige Auseinandersetzung zu treffen, sind ein nächster Schritt. Dazu gehören auch Sanierung und Aufrüstung der Bundeswehr. Eine europäische Verteidigung, die nicht essentiell auf die USA angewiesen bleibt, ist ein nächster Schritt. Die Ressourcen dafür müssen erwirtschaftet werden. Das machte eine andere, weniger etatistische Wirtschaftspolitik erforderlich und das Zurückstellen weniger drängender Schönwetterprojekte. Erfolg würde aus einer wahrlich liberalen Ordnung Europas hervorgehen.

Eine perspektivenreiche Analytik geht über den angestammten politikökonomischen Blick hinaus, den Liberale ohnehin pflegen, und schließt gesellschaftliche, mediale, militärische, infrastrukturelle Perspektiven ein. Zudem gilt es in verschiedenen Szenarien vorauszudenken und daraus Schlüsse für Handlungsoptionen zu ziehen. Zunächst dürften dabei Handlungsoptionen Putins eine Rolle spielen. Will er die gesamte Ukraine erobern und hat er dafür genug Kräfte? Kommt es zu einem langwierigen Guerillakrieg? Sind die baltischen Staaten sein nächstes Ziel und wenn ja, wie schnell? Wie ist seine Drohung mit Nuklearwaffen einzuschätzen? Würde Putin taktische Atomwaffen einsetzen? Welche Kenntnisse über Eskalationsstufen sind aus dem Kalten Krieg vorhanden und heute brauchbar? Kann es zu einem Japan-Szenario kommen, d.h. einer wahrgenommenen Einschnürung mit einer Expansionsstrategie zu begegnen, was einer ungewollten Eskalation gleichkäme? Eröffnet Putin einen Cyberkrieg und zielt auf die leicht verwundbare Digitalstruktur der westlichen Welt? Kommt es zu einer Revolution in Russland? etc. pp.

Wachsamer Liberalismus

Liberale bleiben schließlich wachsam. Vorsicht vor militärischen Abenteuern in Krisenmomenten! Die Reaktion der US-Staatsführung auf 9/11 hat zu zwei verheerenden Jahrzehnten Krieg und Destabilisierung nicht nur am Hindukusch geführt. Aufrüstung und Exekutivbefugnisse sind und bleiben nicht harmlos. Militarisierung beschränkt sich nicht auf Streitkräfte, sondern zieht eine Aufrüstung der Polizei nach sich. Dennoch erfordert Frieden bekanntlich die Vorbereitung des Krieges oder der Kriegsfähigkeit. Welche Gratwanderung und welche Kraftanstrengungen damit verbunden sind, zeigt Israel.

Abschließend sei auf Chancen hingewiesen.

  • Politische Prioritäten werden durch Realpolitik neu sortiert. Moralismus, Windräder und Batterieautos, Gendertoiletten, als Wokeness getarnter Kulturkampf verlieren in einem lange währenden Konflikt an Bedeutung genauso wie Absurditäten einer Corona-Politik.
  • Die Revitalisierung einer liberalen Wirtschaftsordnung ist der Erfolgsschlüssel, um sich in einem langfristigen Konflikt mit Russland und auch China zu behaupten. Beide werden langfristig ökonomisch entschieden. Strukturreformen besitzen ab sofort eine grundsätzlich neue Dringlichkeit.
  • Offene Gesellschaften sind autoritären Systemen weit überlegen und die Voraussetzung für Frieden – das ist gerade von Menschen in der ganzen Welt zu hören und zu sehen. Nationalismus Fehlanzeige, Patriotismus blüht. Alle Menschen wollen im 21. Jahrhundert Frieden bis auf wenige Kriegstreiber.