Gastbeitrag von Torben Halbe
Die Welt ist informationsreicher als jemals zuvor! Damit meine ich nicht nur elektronische Information, sondern auch immer mehr Produkte und Maschinen mit immer mehr, immer verschiedeneren Funktionen, aber auch immer mehr Menschen mit immer verschiedeneren Lebens- und Arbeitswelten. All diese Dinge und Menschen sind informationsreich, und ihre alltägliche Interaktion muss haufenweise Informationsverarbeitung beinhalten, sonst wäre sie chaotisch.
Wie aber soll diese Informationsverarbeitung stattfinden? Zentral oder dezentral? Das ist für mich das entscheidende politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Thema des 21. Jahrhunderts.
Dezentrale Informationsverarbeitung
Beispiele für dezentrale Informationsverarbeitung sind marktwirtschaftliche Entscheidungen von (nicht-monopolistischen) Betrieben, kommunale Politik, die Berichterstattung lokaler Medien und nicht zuletzt eigenverantwortliches Handeln der Menschen in Familie und Ehrenamt sowie bei Konsum, Kunst, Kultur und Freizeitverhalten. Umso mehr Dinge „lokal geklärt“ werden, also nie in überregionalen Medien, NGO-Kampagnen oder Online-Diskussionen auftauchen, und nie zu Regelungsanstrengungen auf Landes-, Bundes- oder gar internationaler Ebene führen, desto dezentraler ist ein System.
Zentrale Informationsverarbeitung
Ein auf zentraler Informationsverarbeitung aufbauendes System ist das genaue Gegenteil: Jedes einzelne Vorkommnis auf Millionen von Hektar Fläche im Alltag von Millionen von Menschen und Unternehmen wäre darin möglicher Gegenstand von „öffentlichen Diskussionen“ (durch eine Massenöffentlichkeit) und Mikromanagementversuche von Gesetzgebern und anderen Institutionen auf der Ebene von Ländern, Bund und international.
Eine solche zentrale Informationsverarbeitung wird zunehmend versucht, z. B. in Dingen wie der Bekämpfung von Klimawandel und Corona, aber auch in moralischen Fragen (wie soll sich welche Privatperson und welcher Betrieb verhalten) und selbst in der Sprache und Kunst (was soll wie gesagt und dargestellt werden dürfen).
Obwohl sich einzelne politische Bewegungen darin besonders hervortun, erstrecken sich derartige Bestrebungen über das gesamte politische Spektrum oder werden gar nicht parteipolitisch begründet, sondern technokratisch. Daher möchte ich sie an dieser Stelle ideologiefrei betrachten und die Frage stellen, ob zentrale Informationsverarbeitung überhaupt funktionieren kann, also überhaupt eine angemessene Antwort auf den zunehmenden Informationsreichtum der Welt darstellen kann, egal wer politisch am Steuer sitzt.
Glaube an den Zentralismus
Meiner Ansicht nach basiert der Glaube an die Überlegenheit zentraler Informationsverarbeitung im Glauben an etwas, das ich „magische Ordnungsquellen“ nennen möchte. Eine magische Ordnungsquelle zeichnet sich dadurch aus, dass sie sämtliche Information aufnehmen und perfekt verarbeiten kann. Perfekt verarbeiten bedeutet, dass sämtliche Zusammenhänge zu sämtlicher gleichzeitig verarbeiteter Information hergestellt und daraus detaillierte Handlungsanweisungen zum Erreichen bestimmter Ziele abgeleitet werden können. Solche Ziele können wie gesagt z. B. der Klimaschutz oder Gesundheit oder „Gerechtigkeit“ sein.
Beispiele für solche magischen Ordnungsquellen wären beispielsweise „die Gesellschaft“ (die sogenannte „gesellschaftliche Probleme“ verarbeitet und löst), „die Öffentlichkeit“ (siehe z. B. den Ausdruck „Licht der Öffentlichkeit“) oder der Staat (siehe z. B. den Ausspruch „Kann das nicht der Staat regeln?“).
Befürworter einer zentralen Informationsverarbeitung werfen dezentraler Informationsverarbeitung vor, in der jeweiligen Sache das jeweilige „große Ganze“ nicht berücksichtigen zu können. Denn dieses könnte nur berücksichtigt werden, wenn alle Informationen an einem Ort gesammelt verarbeitet würden, und zwar von einem solchen „magischen“ Verarbeiter. Den dezentralen Verarbeitungsstellen wird dagegen vorgeworfen, jeweils in einer „Blase“ zu existieren und sich in Voreingenommenheit und „Eigeninteressen“ zu verlieren.
Das ist nicht von der Hand zu weisen, der Fehler liegt nur darin, zu glauben, es sei bei zentraler Informationsverarbeitung anders.
Informationsentstehung und -verabeitung
Aber der Reihe nach: Richtig ist, dass bei der dezentralen Informationsverarbeitung die meisten Informationen jeweils vor Ort verarbeitet werden und zwar tatsächlich nach der eigenen Spezialisierung, also der eigenen Voreingenommenheit. Das meiste dringt nie nach außen, sondern nur fertig prozessierte Information. Dieser Output ist nur ein Bruchteil der insgesamt in dieser Stelle prozessierten Information.
Zum Beispiel dringt nach außen, wie viel ein Unternehmen bereit ist, für welche Mengen Stahl zu bezahlen, aber nicht, wie es zu dieser Einschätzung gekommen ist. So wird dann die Allokation von Stahl gewährleistet, ohne dass eine zentrale Stelle verteilen oder umverteilen muss. Hier könnte ein Zentralist nun fragen, wie sichergestellt werden soll, dass z. B. alle Arbeitsbedingungen und Umwelteffekte eingerechnet wurden, also dass nicht doch vielleicht ein anderer den Stahl „verdient“ hätte, weil er „fairer“ oder „systemrelevanter“ ist. Als Lösung wird vorgeschlagen, sämtliche Informationen aus allen stahlverarbeitenden Unternehmen (und ihren Lieferanten und Abnehmern) sollten durch „die Öffentlichkeit“ oder den Staat „kontrolliert“ werden. Daraus sollten dann besagte Handlungsanweisungen (in diesem Fall zur Allokation) erwachsen. Und das gilt dann natürlich nicht nur für die Stahlindustrie, sondern für sämtliche Unternehmen und darüber hinaus auch für den Alltag sämtlicher Bürger, für Sprache und Kunst etc.
Zentralismus funktioniert nicht
Das Problem: Das kann nicht funktionieren. Es ist zwar richtig, dass bei dezentraler Informationsverarbeitung ein Großteil der Information nie in Bezug zu einem Großteil der anderen Information im Gesamtsystem gesetzt wird, da die einzelnen Verarbeitungsstellen wie gesagt jeweils nur einen Bruchteil der in ihnen prozessierten Information weitergeben.
Aber es ist falsch, anzunehmen, das sei anders, wenn man versuchen würde, sämtliche Detailinformationen von Millionen von Hektar Fläche aus dem Alltag von Millionen von Menschen und Unternehmen an einer Stelle zu verarbeiten.
Denn das ist einfach zu viel Information! Eine magische Ordnungsquelle könnte damit umgehen, reale Systeme können das nicht. Bei sämtlichen bekannten Informationsverarbeitungssystemen gibt es Grenzen, wie viel an einer Stelle verarbeitet werden kann. Es ist unumgänglich, beim Erreichen dieser Grenze eine Arbeitsteilung einzurichten: Die einzelne Stelle generiert wie gesagt einen Output für eine andere Stelle, erspart der anderen Stelle allerdings die Details, wie dieser errechnet wurde. Somit kann sich jede Stelle auf eine bestimmte Information spezialisieren.
Arbeitsteilung und Spezialisierung
Beispielsweise prozessiert keine einzelne Nervenzelle im visuellen System gleichzeitig sämtliche Information aus dem gesamten Sichtfeld, sondern jede nur Teilaspekte. Und kein Prozessor wird auf dutzende Gigahertz getaktet, um so viel Information wie möglich an einer Stelle zu prozessieren. Er würde beim Versuch schmelzen! Bei etwa 3 Ghz war Schluss, man behilft sich mit der Vernetzung verschiedener Stellen, wie mehrere Prozessoren im Mehrkernprozessor, aber auch spezialisiertere Einheiten wie Grafikchips.
Es gibt keinen Grund, anzunehmen, das sei bei Systemen, die aus Menschen bestehen, anders. Gut, eine zentrale Stelle (wie eine Regierung), der man zu viel Information auf einmal zumutet, würde anders als ein völlig übertakteter Prozessor nicht schmelzen. Aber sie würde den Großteil der eintreffenden Information ignorieren und den Rest nach ihren eigenen Voreingenommenheiten verarbeiten. Es würde also kein „großes Ganzes“ gefunden, keine Blase verlassen.
Dezentrale Informationsblasen verarbeiten mehr
Informationsverarbeitung kann überhaupt nur durch Spezialisierung stattfinden, also innerhalb von Voreingenommenheiten und damit in Blasen. Es kann insgesamt viel mehr Information verarbeitet werden, wenn das ganze Land von großen und kleinen Blasen bedeckt ist, die jeweils viel lokale Information prozessieren, untereinander aber nur wenig Information austauschen, um einander nicht zu überlasten. Beispiele für solche Blasen sind Unternehmen, Kommunen, Vereine und Familien, jeder Mensch gehört also gleichzeitig zu verschiedenen Blasen verschiedener Größe.
Zentralismus stört dezentrale Arbeitsteilung
Wenn man stattdessen einer einzelnen Blase, nämlich einer zentralen Stelle wie z. B. einer Regierung, zu viel Macht zugesteht und sie mit ihrem begrenzten Wissen überall eingreifen lässt, wird die Informationsverarbeitung all der anderen Blasen gestört. Statt relevante lokale Information zu verarbeiten, müssen sie zunehmend den Output dieser zentralen Blase (z. B. regulatorische Formulare) verarbeiten, sodass sie überlastet werden und viel lokale Information unverarbeitet bleibt. Und statt sich immer besser auf diese kontinuierlich wachsende lokale Information spezialisieren zu können, müssen sie sich immer mehr auf die zentralen Vorgaben spezialisieren. Folglich verschlimmert sich das Problem mit der Zeit und mehr und mehr lokale Information kann niemals gewinnbringend verarbeitet werden.
Was ist zu tun?
Das Fazit muss also sein, den Glauben an magische Ordnungsquellen aufzugeben. Er ist nichts als Hybris.
Wir sollten die Grenzen der Informationsverarbeitungskapazität unserer eigenen Gehirne und sämtlicher Systeme, denen menschliche Gehirne angehören können, akzeptieren, und daraus schließen, dass die angemessene Reaktion auf die immer informationsreicher werdende Welt eine Dezentralisierung der Informationsverarbeitung ist – nicht das Gegenteil.
Jeder von uns hat einen begrenzten Horizont, wer immer als Prophet eines wie auch immer gearteten „großen Ganzen“ auftritt, sollte als jemand erkannt werden, der allen anderen seinen eigenen begrenzten Horizont mit Regierungsgewalt aufzwingen will.
Literaturhinweis: Torben Halbe: Freiheit ohne freien Willen. Liberalkonservative Denkansätze für das 21. Jahrhundert (2020)