Alternative Staatsformen
Alternative Staatsformen

Alternative Staatsformen

Alternative Staatsformen

Langewiesche_ReichDer deutsche Nationalstaat war weder alternativlos noch die beste Lösung für die Menschen in Deutschland und Europa. Die Geschichte bietet spannende Einblicke in die jahrhundertelange, wechselhafte Staatsgeschichte und die Organisationsformen zum Austarieren und Konzentrieren von politischer Macht. Dieter Langewiesche, namhafter Professor Emeritus für Mittlere und Neue Geschichte, geht der vorherrschenden Ansicht auf den Grund, die Entwicklung habe zum Nationalstaat, zur Vollendung durch die Reichsgründung gedrängt: „Der Nationalstaat war ein Geschichtsbruch.“ (S. 2)

Es folgen von mir einige Bemerkungen in primär politischer Perspektive zu einem kompakten wissenschaftlichen Essay in einer akademischen Reihe, die sich an die Fachwissenschaft und an die Öffentlichkeit wendet. Die geschichtswissenschaftliche Bedeutung des Essays liegt im Aufzeigen und Betonen alternativer Ordnungen im Prozess der Macht- und Staatsverdichtung; zugleich wird deutlich wie sehr die Bewertungen geschichtlicher Prozesse im Laufe der Zeit wechseln: von der ersehnten und verherrlichten Reichsgründung eines Nationalstaats über dessen Verdammung bis zur erklärten Normalität einer vollendeten Entwicklung und deren Hinterfragen.

  1. Die Besonderheit des Alten Reichs, das bis 1806 bestand, war seine Mehrstaatlichkeit, die mit einer Machtbalance durch Polyzentrik einherging. Das ist etwas, das heute in Deutschland und der EU große Aktualität besitzt, besitzen sollte, zumal das Alte Reich ein europäisches Gebilde war. Vielleicht kann das Alte Reich Impulse für ein Austarieren von Macht bieten.
  2. Das in der Präambel des Grundgesetzes von 1949 enthaltene Wiedervereinigungsgebot kann in nationalstaatlicher Hinsicht nur auf einen „Wimpernschlag in der langen Geschichte der Deutschen“ Bezug nehmen, eine politisch zudem mehr als nur 12 Jahre hochproblematische Zeit von 1871 bis 1945. Was deutsch ist, kann als langer, uneindeutiger, machtpolitisch konnotierter, kollektivistischer Konstruktionsprozess begriffen werden, besonders als Nationalstaatsstreben. So waren die Vorstellungen der Deutschen über ihre Nation entweder kleindeutsch-nationalstaatlich geprägt oder völkisch-national oder kulturnational.
  3. Das Alte Reich wird gemeinhin abwertend mit Begriffen belegt wie Partikularismus, Zersplitterung, Flickenteppich. Erst Kriege führten indes zu einem Nationalstaat, der Kolonialismus und Imperialismus betrieb und zumindest anteilig verantwortlich war für die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Das Alte Reich war hingegen nie expansiv.
  4. Das Alte Reich umfasste eine einheitliche Nation ohne einheitlichen Nationalstaat. Vielmehr etablierte sich ein Föderalismus, der Macht begrenzte und Räume der Selbstbehauptung zuließ, eine multikulturelle, multistrukturelle, verflochtene Staatlichkeit, mit einem nicht-erblichen Kaiser an der Spitze, mit Reichstag, Reichsgerichten und Reichskreisen, Fürsten und ihren Ländern, Ständen und einer seit 1500 föderalen Reichsverfassung.
  5. Schon die Zeitgenossen waren sich uneins über den Charakter des Staats, Staatenbundes, Nicht-Staats, Reichs-Staats, überstaatlichen Reichsverbunds, Staats deutscher Nation, übernationalem Personenverband. (26f.) Bewegung und Bewahrung zeichneten das Alte Reich aus, das über Jahrhunderte hinweg zahlreiche fundamentale Krisen und Kriege gefestigt überstand, mit einem tief verankerten Föderalismus.

Das variable Reichsgebilde bestand aus Reich, zuständig für Außenverteidigung und Rechtssystem, Reichskreisen, zuständig für Exekutionswesen und Infrastruktur, Territorialstaaten, zuständig für Verwaltung und Disziplinieren der Untertanen. Eine Art föderativer Mehr-Ebenen-Staat mit hierarchischem und genossenschaftlichem Zusammenwirken.

Was ist die EU? Welche Rolle spielen darin die Staaten? Was wären moderne Entsprechungen zu den Ständen?

  1. Naheliegenderweise waren die Hauptbastionen des Liberalismus klein- und mittelstaatliche Gebiete. Und es waren auch die kleinen Ordnungseinheiten, die Reformen wagten. „Sie organisierten sich untereinander in Grafenvereinen, Ritterorden und -kreisen, auf Prälaten- und Städtetagen. … Die Nähe zwischen Obrigkeit und Untertanen auf engem Raum förderte den Landespatriotismus und erleichterte den Weg vom Untertanen zum Staatsbürger.“ (S. 30)

Welche Impulse lassen sich daraus gewinnen angesichts viel kritisierter Bürgerferne und Elitenkritik heute?

  1. Mit dem Untergang des Alten Reichs wandelte sich der Föderalismus, verloren die Verlierer des staatlichen Verdichtungsprozesses ihre politische Eigenständigkeit, entstand ein bürgerferner Bundesstaat, der mit der Jahrhunderte langen Reichstradition brach und mit einem Zentralisierungsschub einherging. Die Entwicklung verlief von einer mehrstaatlichen Nation zu einem nationalstaatlichen Föderalismus. Föderation und Nation miteinander zu verbinden war eine bedeutende Innovation mit erheblicher Integrationskraft und expansivem sowie innenpolitisch diskriminierenden Drang. Begleiterscheinungen von Hierarchisierung, Zentralisierung, Empire-Streben.
  2. Heute gibt es keine konsequente Selbstbestimmung der Länder mehr, die vor allem an der Bundespolitik mitwirken, aber noch starke Eigenheiten besitzen und z.B. zuständig für Bildungspolitik sind. Der Föderalismus wird herausgefordert angesichts der EU-Europäisierung und fordert diese heraus. In historischer Perspektive scheint ein Einheitsstaat EU unwahrscheinlich. Föderalismus im weiteren Sinne ist eine Jahrhunderte überdauernde Kraft.

Auffällig ist bei der Lektüre wie sehr sich Menschen für letztlich abstrakte Staatlichkeit opfern können und in Kriegen geopfert werden, besonders für die Nation, für den Nationalstaat. Auffällig ist zudem in der von Dieter Langewiesche eingenommenen Legitimitätsperspektive, die Blickwinkel Repression oder Prosperität werden kaum eingenommen, wie sehr sich Herrscher um Legitimitätskonstruktionen bemühen und wie sehr der Sozialstaat Zentralisierung und Machtverdichtung befördert hat.

Nichts ist alternativlos, manches indes wenig wahrscheinlich.

 

Dieter Langewiesche: Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte (Heidelberger Akademische Bibliothek Bd. 5), Kröner Verlag, Stuttgart 2020, 118 S., 19,90 Euro.