Wolfszeit in Deutschland
Nachkriegsgeschichte wie ein Film, gleich zwei Mal
Eine Notiz zu den kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Panoramen von Harald Jähner
Höhenrausch und Wolfszeit, so lauten die Titel der beiden Nachkriegserzählungen von Harald Jähner, früherer Feuilletonchef der Berliner Zeitung und Honorarprofessor für Kulturjournalismus. Höhenrausch, hier auf FFG von mir besprochen, liest sich wie der Titel verspricht. Eine Art Tanz am Rande des Vulkans, zum Ende des ErstenWeltkriegs, dann im Aufstieg mit Hyperinflation und modernem Aufbruch, dann als Einbruch oder Absturz in den Nationalsozialismus. Wolfszeit bietet eine rauere Atmosphäre, vielleicht weniger im Rudel als als Einzelgänger in harten Zeiten.
Wer sich einen vielseitigen Eindruck von den gesellschaftlichen Entwicklungen nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg verschaffen möchte, der ist mit den beiden sehr lesenswerten Bänden gut beraten. Früher waren gut geschriebene historische Erzählungen mit wissenschaftlichem Anspruch der angelsächsischen Welt vorbehalten. Lehrreich, unterhaltsam, voller Bilder oder Szenen. Die Zeitgenossen kommen zur Sprache. Ein facettenreiches Mosaik.
Wolfszeit behandelt die Zeit von 1945 bis 1955 in Deutschland und berücksichtigt immer wieder die Mentalität der Deutschen. Es geht um die Enttrümmerung und den früh einsetzenden Trümmertourismus, um die großen Wanderbewegungen in und aus sowie nach Deutschland, zugleich um Tanzlust, Erotikbedürfnisse und die Herausforderungen für die Familien angesichts zurückkehrender, traumatisierter Männer in Frauen geführte Familien. Der Leser nimmt Teil an der Nachkriegsmarktwirtschaft, die vom Staat als „Schwarz“ abgewertet wurde und doch viel besser funktionierte als die Rationierungsverwaltung. Behandelt werden die „Generation Käfer“ mit den bizarren Zuständen in Wolfsburg, aber auch Kunst und Design im Zeichen des Kalten Kriegs sowie Umerziehung und Verdrängung.
Beeindruckt haben mich die Schilderung über die vielgestaltige Rolle der Frau – wie schon nach dem Ersten Weltkrieg. Gelungen finde ich die Einblicke in das Rationierungs(un)wesen. Wer marktwirtschaftlich versiert ist, erkennt hier wie nachteilig Rationierung immer ist, besonders in Zeiten eines Nachkriegsmangels. Schwierig empfinde ich die durchaus differenzierten Versuche Kollektivperspektiven einzunehmen. Der narrative Ansatz vermittelt intensive Eindrücke, geht dabei zu Lasten analytischer Erkenntnisse. Die Nach-Lektüre-Stimmung ist eine kaputtere als erwartet. Das liegt an der über weite Strecken kaputten Umgebung, materiell und menschlich.
Absolut lesenswert.