Leserbrief zum Gastkommentar Das Demokratieproblem lähmt Europas Einheit von Ludger Kühnhardt in der NZZ am 22.02.2017.
Diagnose und Argumentation zum Demokratieproblem, das Europas Einheit lähmt, sind stimmig.
Zugleich wirft der Beitrag drei Probleme auf, ohne sich damit zu beschäftigen:
- Die Einheit Europas und die Gestaltungsfähigkeit der EU werden als per se wünschenswert angenommen (politische Voreingenommenheit).
- Die Diagnose, es fehle eine europäische Gesellschaft, wird als Defizit angesehen (politisch-gesellschaftliche Voreingenommenheit).
- Die Präferenz von Elitenentscheidungen gegenüber anderen, als populistisch bezeichneten Entscheidungen bleibt unbegründet (institutionelle Voreingenommenheit).
Mit Anthony de Jasay ist es nutzlos zu sagen, dass wir etwas Anderes oder Besseres brauchen als wir derzeit haben. Das benötigen wir immer. Nur ist es naiv zu glauben, dass das stets möglich ist und noch dazu, dass es so kommen wird, nur weil wir es fordern.
Der Bonner Historiker Dominik Geppert hat anschaulich und verständlich aufgezeigt, das es dieses – geforderte – Europa nicht gibt und wohl kaum jemals geben wird.
Was wir in der Demokratiekrise, die eine ausgeprägte Staatskrise ist, brauchen, ist keine Kritik der bekannten Nicht-Zustände, sondern das Erkennen von Chancen und tragfähigen Alternativen – darunter:
- die Weiterentwicklung der Verfassungen durch bewährt, aber heute vergessene Mittel, z.B. Losverfahren als Ergänzung zu Wahlen,
- konkurrierende regionale Entwicklungen zulassen, statt sich immer mehr zentralisierte Handlungsfähigkeit anzumaßen,
- der Rückzug der hoffnungslos überforderten und aufgeblähten Staaten auf hoheitliche Aufgaben, damit die Bürger wieder ermächtigt werden und im politischen Wettbewerb die Weiterentwicklung von Demokratie und Rechtsstaat betreiben können.
Integration durch Verordnung scheitert. Wenn Europa enger zusammenwachsen soll, dann gelingt das nur freiwillig in einem Jahrzehnte währenden Prozess.
Michael von Prollius