Denken des Maschinenzeitalters überwinden
Denken des Maschinenzeitalters überwinden

Denken des Maschinenzeitalters überwinden

Denken des Maschinenzeitalters überwinden

Was haben diese Dinge gemeinsam: die Insolvenz-Aussage des deutschen Wirtschaftsministers, das Cover der Spiegel-Ausgabe 33/2022 („Hier ruhen unsere Klimaziele“), das Covid-19-Modell des Imperial College, London von 2020 mit 500.000 prognostizierten Toten im UK und über 2 Millionen in den USA?

Einfaches, lineares Denken.

Etwas spitz ließe sich mit William James, dem Begründer der amerikanischen Psychologie als Wissenschaft, kommentieren, dass viele Menschen glauben, sie denken, während sie lediglich ihre Vorurteile ordnen. Gleichwohl soll es nachfolgend weder um Besserwisserei, noch um wahr und falsch oder legitime und illegitime Schlussfolgerungen gehen. Ich bemühe mich lediglich um einen Denkanstoß und nutze das „Denken ohne Geländer“. In Anlehnung an Hannah Arendt (Texte und Briefe, Freiheitbegriff), bedeutet das, keiner etablierten Theorie zu folgen und keiner Denkschule anzugehören.

Ausgangspunkt sind Beobachtungen.

Im Management ist von Tools und Quick wins oder fixes die Rede. Das aus den 90er Jahren stammende Effizienzdenken, Lean Management, ist zwar aus der Mode. Effizienzdenken bleibt eine feste Größe, gerade bei Gesellschaftsklempnern, die Märkte und spontane Ordnungen für verschwenderisch und ziellos halten. Zugleich scheint das Ideal der schlanken Organisation im Zuge der Fitnesswelle individualisiert worden zu sein. Traumfigur durch Training (und optimierte Ernährung). In Bürokratien wird gerne organisiert, nach vermeintlich eindeutigen Zuständigkeiten getrennt und durch Hierarchie geleitet. In den „stahlharten Gehäusen“ (Max Weber) gibt es nach zweckrationalem Denken die höhere Einsicht, die steuert, und gleichsam die anderen, die rudern. Standardisierung, Routine, Formulare als Ikonen – und als Begrenzung von Handlungsspielräumen. Zugleich handelt es sich mit Weber um die „rationalste Form der Herrschaftsausübung“. Immer noch ist das Single-Loop-Denken und -Lernen en vogue: Planen, Umsetzen, Kontrollieren – besser Planen. Das gibt es auch als: Ausgangszustand feststellen, Ziele formulieren, diese umsetzen – friktionsfrei indes beim Nicht-Denken. In der Politik werden immer noch simple Ursache-Wirkung-Lösungen angepriesen, von Mindestlöhnen und Grundeinkommen für mehr Wohlstand über Verhandeln mit Putin als Lösung des Ukraine-Konflikts bis zu Paketen, die alles und jeden retten. Schöne Bescherung, für die Kindlein? Oft hören wir, die Wirtschaft müsse angekurbelt werden. Die Rettung des Klimas sei noch möglich, mit viel weniger CO2. Alternativlos. Hier begegnet uns maschinelles Denken im Naturgewand mit der Aufforderung Maschinen abzustellen. Am „tiefsten Tiefpunkt“ (Rudi Völler) erwarten uns politisch korrektes Denken, woker Moralismus, Anti-Diskriminierung und nicht wegzudenken: Anspruchsrechte.

Das Gegenteil ist das Ideal seit der Aufklärung: kritisches Denken. Skepsis. Selbst denken. Anders und querdenken. Letzteres ist noch in der Kultur erwünscht. Die praktizierte Alternative hat der österreichische Schriftsteller Karl Kraus pointiert formuliert: Wer mit der Herde läuft, muss Ärschen folgen.

Das lineare Denken hat Folgen. Eindimensionalität an erster Stelle. Klarheit und vermeintliche Eindeutigkeit, die gehen allerdings zu Lasten eines umfassenden, tiefen Verständnisses der Probleme. Eine Folge ist die Verschlimmbesserung, auch bekannt als Behandlung von Symptomen und Lösungsverschleppung.

Welchen Anteil hat die Eindimensionalität des Denkens an unseren überbordenden aktuellen Problemen?

Neues Denken

An Stelle eindimensionalen Denkens könnte mehrdimensionales oder multiperspektivisches Denken treten. Das ist leider nicht trivial. Deshalb neigen wir im Alltag zu raschem Denken, schnellen Entscheidungen auf der Grundlage von Heuristiken, nutzen Moral als Kompass. Das ist vielfach vollkommen ausreichend und angemessen. Zugleich erscheint es für das Verstehen und erst recht für das Lösen komplexer, verwickelter Probleme ungenügend und unangemessen.

Bernhard von Mutius hat vor fast 20 Jahren in „Die andere Intelligenz“ das alte Denken einem neuen Denken gegenübergestellt. Aus „So ist es!“ wird „Ist es so?“. Aus Objekten werden Beziehungen, aus Materie Immaterielles, aus entweder oder wird sowohl als auch, aus dem Räderwerk das Netzwerk, aus umsetzen gestalten usw.

Perspektivwechsel

Worte haben Bedeutung. Andere Worte sind Ausdruck anderen Denkens. Die Wirtschaft ist ein Netzwerk. Haben Sie schon einmal ein Netzwerk angekurbelt? Retten bedeutet aus einer bedrohlichen Situation befreien und dadurch vor Tod, Untergang und Schaden bewahren. Kann man das Klima, einen statistischen Durchschnitt von mindestens 30 Jahren Wetter, retten? Welchen Wert haben Anpassungen an Klimaänderungen im Vergleich zum angeordneten Verzicht für breite Bevölkerungsteile? Wenn größtmögliche Effizienz erreicht ist, wie gelingen dann Flexibilität, Innovation, Lernen und Verändern? Eine Antwort lautet: Redundanzen sind keine Verschwendung, sondern Erfolgsvoraussetzungen (Redundanz, Slack und lose Kopplung in Organisationen). Wann sind klare Zuständigkeiten und Abgrenzungen erforderlich, wann agile Organisationsformen in einer komplexen, dynamischen Welt geboten? Und lautet die wichtigere Frage vielleicht: Wie baue ich Wissen auf und bringe es zu Geltung? Moment! Besser: Wie verknüpfe ich Wissen und gestalte Lösungen?

Kontraintuitives Systemdenken

Linearität und Intuition können in die Sackgasse führen. Systeme verhalten sich zuweilen kontraintuitiv. Jay W. Forrester, Informatiker und Computer-Pioneer hat in seinem Klassiker aufgezeigt, dass verfallende Stadtgebiete nicht aus Wohnungsknappheit resultieren, sondern aus einem Überschuss von sozialem Wohnungsbau. Die üblichen Hilfsprogramme scheiterten nicht nur durchweg, sondern verschlechterten die Lage noch zusätzlich. Forrester ist zu dieser Erkenntnis gelangt, indem er zunächst ein Model urbaner Prozesse entworfen hat. Gestützt auf eine Theorie dynamischer sozialer Systeme zeigte das Computermodell wie Industrie, Wohnungen und Menschen interagieren während eine Stadt wächst oder verfällt. Für die politische Ökonomie hat Christopher Coyne die von mir gerne zitierte Formel des „Doing Bad by Doing Good“ geprägt – kontraproduktive Entwicklungshilfe.

James Tooley berichtet in “The Beautiful Tree“: In Indien und Afrika, auf dem Land und in den Städten wollen und können die Ärmsten der Armen alle ihre Kinder auf kostenpflichtige Privatschulen schicken; sie ziehen diese den kostenlosen staatlichen Schulen aufgrund der besseren Qualität vor. Die Eltern, regelmäßig Analphabeten, nehmen die Bildung ihrer Kinder erfolgreich selbst in die Hand.

Dazu passend zeigt eine quantitative Untersuchung der verlängerten Schulpflicht in England und Wales, dass dadurch weder der Lebensstandard noch die Lebensdauer verbessert wurde. Ähnlich kontraintuitiv erschienen vielen Menschen die zahlreichen Hinweise auf kontraproduktive Lockdowns und der Nachweis der Nutzlosigkeit von Masken in Schulen im gesellschaftlichen Umgang mit Corona.

Eine hilfreiche Form des Denkens ist das Denken in Systemen. Albert Rutherford bietet mit seinem einfachen Einstiegsband „The Elements of Thinking in Systems“ eine Einstiegsoption. Darin werden vor allem verschiedene System-Archetypen geschildert:

  • Shifting the Burden, d.h. ein Problem verschwindet in einem Bereich und taucht in einem anderen auf, wo es noch mehr Ressourcen beansprucht.
  • Limits to Success, d.h. Wachstum erfordert immer mehr Ressourceneinsatz und kann deshalb nicht mit derselben Intensität aufrechterhalten werden.
  • Tragedy of the Commons, d.h. Übernutzung einer gemeinschaftlichen Ressource.
  • Accidential Adversaries, d.h. unbeabsichtigte Schädigung eines Partners, die zu einer Gegnerschaft führt.

Von den weiteren Archeytypen sei noch erwähnt Success to the Successful, d.h. die Erfolgreichen werden aufgrund ihres Vorsprungs immer erfolgreicher und nicht aufgrund ihrer Bemühungen. Umgekehrt gilt das auch für die Verlierer als Abwärtsspirale.

Zuweilen hilft es, das Denken in Kausalzusammenhängen durch Denken in Wahrscheinlichkeiten zu ersetzen. Das zu erläutern, führt an dieser Stelle zu weit.

So what?

Wir erleben eine Zeit, in der eine Autoritätstümmelei in Deutschland (erneut) beklagt wird und wir um den natürlichen Konformismus von Menschen, als sozialen Druck nicht abzuweichen, wissen sollten. Schon Tacitus konstatierte, es sei selten, dass man denken kann, was man will, und aussprechen kann, was man denkt. Und George Orwell erinnert uns daran, dass Denken die Sprache, und Sprache das Denken korrumpiert. Bemühen wir uns, nicht nur aus Nützlichkeitserwägungen um ein anspruchsvolleres Denken. Das ist eine enorme Herausforderung und eine Lebensaufgabe. Vielleicht ist es die Jahrhundertaufgabe.