Mit den Augen des Staates
Mit den Augen des Staates

Mit den Augen des Staates

Mit den Augen des Staates

Die Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung steigt, das Vertrauen in die Regierung hat 2022 einen Tiefpunkterreicht. Zugleich sehen sich die staatlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten erneut fundamentaler Kritik ausgesetzt, u.a. wegen einer perzipierten Selbstbedienungsmentalität, Überfinanzierung und möglicher ideologischer Beeinflussung – gleichwohl gilt die Tagesschau Bürgern als vertrauenswürdige Sendung

Der Staat, d.h. die politische Führung des Landes mit Regierung, Parlament und der Staatsbürokratie, dehnt seine Zuständigkeit, Tätigkeiten und seinen Umfang aus. Mehr als jeder zehnte Erwerbstätige ist beim Staat tätig, insgesamt über 5 Millionen Menschen, darunter 1,7 Millionen Beamte. In den letzten zehn Jahren ist nicht nur die Zahl der Staatsdiener, sondern auch der Gesetze auf 1.773 und Rechtsverordnungen auf 2.655 mit 50.738 Einzelnormen gestiegen. Ein Anstieg zwischen 5 und 15 Prozent nur seit 2010 (Quelle). Darunter leidet insbesondere die Staatsverwaltung selbst, deren Erfüllungsaufwand seit 2011 ebenfalls steigt. Was den Bürokratieaufwand betrifft so fällt das Makro-Bild gemischt aus, ähnlich der Bürokratiekostenindex. Die mangelnde Digitalisierung ist ein vielfach geschildertes massives Problem, das sich wie bei aller Bürokratie im Einzelfall manifestiert.

Der Ruf nach mehr Staat gleicht einer medialen Dauerschleife und ist ein regelmäßiger Wunsch der Bürger: Der Staat müsse die Probleme lösen: Entlastung von Energiekosten, Eindämmen der Inflation, billige Mobilität. Die Regierung, d.h. die Staatsführung als Problem, der Staat, d.h. die Staatsbürokratie oder Verwaltung als Lösung? Das klingt latent schizophren, zumindest wenn man definitionsgemäß eine Denkstörung diagnostiziert, die zu Realitätsverlust und Trugvorstellungen führt.

Wandelnde Staatsvorstellungen

Am Anfang steht das Gemeinwohl. Üblicherweise verbinden Menschen noch immer die Staatsführung und den Staat mit dem Gemeinwohl. Der Staat tut Gutes für die Bürger, für alle Bürger. Staatlicher Altruismus ist da nicht fern, auch wenn selten davon die Rede ist, schließlich liegt der Gemeinwohl-These die Annahme zugrunde, die Menschen, die den Staat bilden, würden die Interessen der Bürger verfolgen, also die Interessen anderer Menschen und dafür nicht zuletzt ihre Interessen zurückstellen.

Diese moralische Position dominierte bis zur Aufklärung. Das Handeln von Herrschern und dem Staat wurde moralisch betrachtet, gutes Handeln mit guter Staatsführung gleichgesetzt. Insofern wird das Aufsehen verständlich, das abweichende Staatstheoretiker ausgelöst haben, darunter Niccolò Machiavelli (1469-1527) als Theoretiker der Macht und Thomas Hobbes (1588-1679) als Theoretiker des Absolutismus (und des Gesellschaftsvertrags).

Die schottische Aufklärung trug zu einer veränderten Wahrnehmung bei. David Hume (1711-1776) zeigte, dass Menschen ihre eigenen Interessen verfolgen und nicht das oder die Interessen der Öffentlichkeit. Sein Freund Adam Smith (1723-1790) zeigte die positiven Folgen des Eigeninteresses für die Kunden in der Wirtschaft erstmals systematisch auf. Viele Jahre später, ab den 1950er Jahren, hat die Schule der öffentlichen Wahlhandlungen – die Public Choice Schule – detailliert und systematisch dargelegt, warum staatliches altruistisches Handeln und staatliche Effizienz unrealistische Annahmen sind. Der Staat verfolgt nicht das Gemeinwohl. Die Staatsführung und der Staatsapparat handeln nicht primär im öffentlichen Interesse, sondern im persönlichen, eigenen Interesse. Die politischen Eliten in einer Demokratie sind egoistische Demokraten. Es wäre eine trügerische Vorstellung anzunehmen, das Handeln eines Regierungschefs, Parteivorsitzenden, Ministers, Staatssekretärs oder Behördenleiters und der Untergebenen würde sich beim Verfolgen von Zielen substanziell von dem vergleichbarer Personen in der Privatwirtschaft und im privaten Alltag unterscheiden.

Kein Gemeinwohl, dafür geleitet von Interessengruppen

Es lohnt sich einige herausragende Erkenntnisse namhafter politischer Ökonomen Revue passieren zu lassen.

Kenneth Arrow (1921-2017), amerikanischer Ökonom, Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 1972, hat das Unmöglichkeitstheorem entdeckt (1951): Demnach gibt es kein Verfahren, um individuelle Präferenzen in eine kollektive Entscheidung zu überführen. Anders formuliert, das Gemeinwohl lässt sich nicht erreichen, weil nicht alle individuellen Präferenzen der gesellschaftlich aggregierten Präferenz entsprechen. Das Gemeinwohlversprechen ist ein Teilwohlfahrtsversprechen, eben nur für einige Bürger. Hinzu kommt, dass ein Staatsführer und auch ein (wohlmeinender) Diktator nicht dieselben Präferenzen hat wie die Gesellschaft.

George Stigler (1911-1991), amerikanischer Ökonom, führender Vertreter der Chicago School, Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 1982, hat die ökonomische Theorie der Regulierung (Economic Theory of Regulation, 1971) formuliert. Es handelt sich um eine sogenannte Capture Theory – Interessengruppen und politische Akteure nutzen Regulierung und staatlichen Zwang, um Gesetze und Regulierungen zu ihrem Vorteil zu gestalten.

Mancur Olson (1932-1998), amerikanischer interdisziplinärer Ökonom (Soziologie, Politikwissenschaft) entwickelte in seinem vielbeachteten Werk „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ die These, dass kleine Gruppen besonders gut organisiert und erfolgreich bei der Realisierung ihrer selektiven Interessen sind. Sie schneiden sich gleichsam immer größere Stücke vom Kuchen der wirtschaftlichen Leistung ab, der zugleich langsamer wächst oder schrumpft.

An dieser Stelle lässt sich festhalten, dass die Gemeinwohl-These des Staates verworfen wurde. An ihre Stelle rückte die Auffassung, dass die Staatsangehörigen ihre Interessen verfolgen und mächtige Interessengruppen den Staat für ihre Zwecke instrumentalisieren. Der Staat wird zugespitzt zur Beute von Interessengruppen (scharfe Kritik, selbst Ziel von Kritik, übte früh Herbert von Arnim und wird auch von Links geteilt).

Der Staat als Selbstzweck

Der ungarische Ökonom, Bankier und Sozialphilosoph Anthony de Jasay (1925-2019) hat 1985 in „The State“ ein weiteres Modell entwickelt: Der Staat verfolgt nicht die Interessen anderer, weder das Gemeinwohl der Bürger noch eines Teils der Bürger und auch nicht das von Interessengruppen, sondern allein seine eigenen Interessen. Wenn er andere Interessen verfolgt, dann nur deshalb, weil das im Staatsinteresse und zur Verfolgung des Staatsinteresses erforderlich ist. Der Staat ist Selbstzweck. Sein Handeln ist auf sich selbst gerichtet und unterstützt lediglich die Gruppen, die für den Machterhalt des Staates erforderlich sind.

Wenn man über diese Theorie nachdenkt und mit der Eliten-Kritik der letzten Jahre in Verbindung bringt, dann klingt das nach einem plausiblen Ansatz und nach einem bedenkenswerten Perspektivwechsel.

Ich möchte drei erläuternde Bekräftigungen anführen:

  1. Ludwig von Mises (1881-1973) analysierte auf eigene Arbeitserfahrungen als Chefökonom der österreichischen Handelskammer gestützt die Bürokratie (1944). Mises verstand Bürokratie als Verwaltungstechnik zur Ausführung des Willens der obersten Behörde. Die Bürokratie sei weder gut noch schlecht, vielmehr sei ihre Ausweitung auf immer mehr Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft problematisch. Der nur gut 100 Seiten umfassende Klassiker ist noch heute ein Augenöffner.
  2. William Niskanen (1933-2011), 1975-80 Chefvolkswirt der Ford Motor Company, später Berater von Ronald Reagan, zeigte in “Bureaucracy and Representative Government” (1968) auf, dass Bürokratien nach Ausweitung ihrer Budgets und Zuständigkeiten streben, um Macht, Gehalt und Prestige auszuweiten. Zugleich streben Politiker nach einem maximalen Output als Gestalter. Das Ergebnis ist ein Gleichgewicht, das über dem Ausgabenniveau des durchschnittlichen Bürgers liegt. Der Staat wächst, das Gemeinwohl sinkt.
  3. Wolfgang Sofsky (1952 -), deutscher Soziologe, hat in „Macht und Stellvertretung“ leicht verständlich erläutert, wie es zu einer Entfremdung von Wähler und Gewählten kommt. Die Ernennung von Stellvertretern sorgt in einem systemimmanenten Prozess dafür, dass die einst von den Wählern Bevollmächtigten diese bald beherrschen. Wer nicht selbst entscheidet, über den wird entschieden: „Vertretung verwandelt sich in das Gegenteil ihrer selbst.“ Von den Beauftragenden wird schließlich Gefolgschaft, ja Willfährigkeit eingefordert.

Die Wähler bevollmächtigen nicht länger einen Vertreter, sondern tauschen „fügsam ihre Stimmabgabe gegen die vage Hoffnung, anschließend tatsächlich vertreten zu werden.“ Die hierarchische Organisation beendet den Transformationsprozess und entscheidet die Machtfrage: der Apparat ist zum Souverän geworden. Die Wähler sind nur noch das Publikum im politischen Theater.

Zugleich unterscheiden sich die Parteien in der Substanz, im Grundsätzlichen, immer weniger. Das hat Anthony Downs (1930 – ) in „An Economic Theory of Political Action in a Democracy“ bereits 1957 gezeigt. In einem politischen Links-Rechts-Schema mit der Masse der Wähler in der Mitte konkurrieren die Parteien um die Mitte und werden in einem Mimikry-Prozess immer ähnlicher.

Das Staatsinteresse

Anthony de Jasay betont: Der Staat muss entscheiden, welche Bedürfnisse und Interessen er unterstützt und fördert und welche Bedürfnisse und Interessen er ignoriert oder behindert. Und das alltägliche politische Theater handele dann von mehr oder weniger attraktiven Verkleidungen und vom Aufplustern, mit dem das nackte Geben und Nehmen bemäntelt werde. Wenig überraschend falle die Entscheidung zugunsten der Menschen aus, die für den Erhalt der Staatsmacht als relevant angesehen werden. Deren Zustimmung kauft sich der Staat mit seinen Interventionen und mit dem Geld der Bürger.

Klar ist für de Jasay, dass der demokratische Staat das Problem nicht löst, sondern verschärft. Die Besitzlosen werden zum Gesetzgeber der Besitzenden. Die Armen sind zahlreicher als die Wohlhabenden und daher fällt dem Staat die Entscheidung leicht, wem er gefallen möchte.

Wenn Menschen beklagen, dass die Umverteilung zunehmend willkürlich erscheint, dass ein unüberschaubarer und widersprüchlicher Umverteilungsstaat entsteht, dass es keine parteipolitischen Alternativen mit Substanz mehr gibt, dann ist das keine Überraschung, sondern gerade das Prinzip, nach dem sich demokratische Wahlen im Sinne de Jasays entwickeln.

Als Liberaler kann man seit Jahren den Eindruck gewinnen, dass das der Fall ist. Das schließt den Eindruck ein, die politisch-bürokratischen Eliten würden in einer Blase leben, sie würden Corona-Maßnahmen erlassen, die nicht dem Gemeinwohl dienen, sie würden eine Klima- und Energiepolitik verfolgen, die nicht dem Gemeinwohl dient, sie würden eine Geldpolitik betreiben, die …

Allerdings ist der Staat kein Monolith. Es gibt unterschiedliche Ansichten und Gruppierungen im Staat. Das hat nach einem Zusammenbruch durch beherztes Zupacken schon einmal zu weitreichenden Reformen geführt – vor 215 Jahren ging es los.