Ein Koordinatensystem für die Politik
„Die ordnungspolitische Lage Deutschlands und Europas ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Euro und Energiepolitik sind Mühlsteine am Hals der Bürger. Demographie, Staatsverschuldung und ausstehende Reformen der Sozialsysteme belasten als Dauerprobleme gleich mehrere Generationen. Die damit verbundenen Lasten werden allen voran die deutschen Steuer- und Abgabenzahler schultern müssen. Noch gravierender als die Rechnungen, die sich aufgrund einer mangelnden politischen Reformbereitschaft und einer aus dem Ruder gelaufenen politischen Allzuständigkeit aufstauen, ist indes der Verlust dessen, was man nicht sieht.“
Dieser Absatz stammt aus dem Jahr 2014 aus meinem Buch: Auf der Suche nach einer anderen Ordnung. Seitdem haben die Belastungen weiter zugenommen, sind die Folgen kontraproduktiver Politik vielfach sichtbar geworden, etwa durch die Konsumentenpreisinflation und die weltweit höchsten Energiepreise, die marode Infrastruktur und die Rentenkürzungen durch Lebensarbeitszeitverlängerung sowie den sich beschleunigenden Personalmangel im Gesundheitssystem und beispielsweise im Handwerk. Die Politik hat zudem neue Belastungen geschaffen, darunter die Corona-Politik und Zombieunternehmen. Der konsequent liberale Publizist Roland Baader fasste das Problem prägnant so zusammen: „Die Politik kann die ökonomischen Gesetze nicht außer Kraft setzen, aber sie kann so tun, als ob sie dazu in der Lage wäre. Leider dauert es eine ganze Weile, bis diese Täuschung ihre jeweils desaströsen Wirkungen voll entfaltet und damit offensichtlich wird.“ (Freiheitsfunken – Aphoristische Impfungen).
Ordnungspolitik
Liberale tun sich seit je her schwer von ihrer Metapolitik in die Tagespolitik hinabzusteigen. In der Tagespolitik lauern Klientelismus, Populismus, Interventionismus, Ungleichbehandlung – Partei ergreifen für wenige gegen viele. Die Altliberalen setzten auf Selbsthilfe statt Staatshilfe, Leistungsprinzip, Erziehung, Sparsamkeit, Aufstieg und Fortschritt und fanden dafür breite Unterstützung über alle Schichten hinweg. Mit ihrem Ordnungsdenken und ihren liberalen Werten waren sie in Deutschland bis zur Reichsgründung 1871 erfolgreich, sowohl bei der Förderung des von ihnen betonten Gemeinwohls als auch bei ihren Wahlerfolge als parlamentarische Mehrheit.
Ohne das Denken in Ordnungszusammenhängen wird Politik zum Problem. Es fehlt ein Kompass. Kurzfristdenken und der Mythos der Machbarkeit drängen in den Vordergrund. Die Schäden folgen mit zeitlichem Abstand.
Im 20. Jahrhundert besannen sich die Neoliberalen auf die liberalen Gewissheiten. Ein Teil von Ihnen, die deutschen Ordoliberalen, sahen in einer den Rahmen – die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, konstitutionell auch der Politik – gestaltenden Politik eine Handlungsoption. Bei aller Abgrenzung von den klassischen Liberalen steckt darin eine wesentliche Annahme aus dem 19. Jahrhundert, nämlich wirkliche Freiheit ließe sich erst durch den Staat erreichen.
Ordnungspolitik bezeichnet herkömmlicherweise alle staatlichen Maßnahmen, die auf die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft einwirken, also auf Regeln und Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens, insbesondere den rechtlichen (Ordnungs-) Rahmen. Ordnungspolitik verändert die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens, ja des Lebens insgesamt. Das liegt daran, dass Ordnungspolitik Anreize für Menschen setzt, Dinge zu tun oder zu lassen. Zur Ordnungspolitik gehören auch die Rahmenbedingungen, die für spezielle Bereiche der Wirtschaft gelten, also z.B. Wettbewerb, Unternehmens- und die Eigentumsordnung, Verteilungs- und Sozialpolitik sowie die Geldordnung. Ordnungspolitische Entscheidungen haben häufig Verfassungsrang.
Spielregeln
Das klingt sehr abstrakt. Anschaulicher wird es, wenn es um Sport geht, etwa die Spielregeln beim Fußball. Im übertragenen Sinne wäre der Staat der Schiedsrichter, der die Regeln durchsetzt, zudem der Deutsche Fußball-Bund, der Spielregeln festlegt. Wie würden sich die Fußballer verhalten, wie würde sich das Spiel ändern, wenn z.B. die Abseitsregel aufgehoben werden würde? Welche Folgen hätte es, wenn Fußballspieler mindestens 30.000 Euro pro Jahr verdienen müssten, unabhängig von der Liga, in der sie spielen und ob sie spielen, wenn der Spitzenverdienst auf nicht mehr als 1 Million Euro in Deutschland festgesetzt werden würde? Welche Regeln machen das Spiel für die Zuschauer attraktiver? Welche schützen die Spieler besser? Soll es eine Liga für ein drittes und weitere Geschlechter geben? Sollen erfolgreich wirtschaftende Vereine einen Teil ihres Gewinns ab einer bestimmten Höhe an die Schiedsrichter und den DFB abgeben müssen? Sollen viel CO2 ausstoßende Sportler und ihre Vereine eine Steuer bezahlen und für den Bau von Windkraftwerken für die Stadionbeleuchtung subventioniert werden?
Lebensbestimmend
Die Ordnung der Wirtschaft ist von so großer Bedeutung, weil sie darüber entscheidet, wie die Koordination der Wirtschaft erfolgt. Die Wirtschaft berührt unser aller Leben jeden Tag tatsächlich – anders als viele Aspekte der Politik, auf die unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird. Wir sind alle Wirtschaft.
Walter Eucken, der führende Ordoliberale und Begründer der Freiburger Schule, urteilte in „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“: „Alle wirtschaftspolitischen Fragen laufen auf die Frage nach der Ordnung der Wirtschaft hinaus und haben nur in diesem Rahmen einen Sinn.“
Zu den herausragenden Rahmenbedingungen einer freien Ordnung gehören:
- die Unantastbarkeit von Leib, Leben und Privateigentum,
- die Freiheit des Individuums vor Bevormundung und Zwang anderer,
- die Herrschaft des Rechts in Form allgemeiner – und damit für alle Menschen gleich geltender – Regeln,
- eine wertbeständige Währung,
- Meinungs- und Vertragsfreiheit,
- ein funktionierendes Preissystem und
- offene Märkte.
Ob Ordnungspolitik in der Ära der Sozialen Marktwirtschaft stets liberal und Prinzipien geleitet war, lässt sich gerade für die Ära Erhard bezweifeln. Es gibt Anzeichen dafür, dass es sich mehr um Marketing als Prinzipientreue gehandelt hat. Mit der großen Koalition und dem Stabilitätsgesetz 1967 endete die Soziale Marktwirtschaft. Unter Wirtschaftsminister Karl Schiller folgte offiziell die aufgeklärte Marktwirtschaft. Der Staat steuerte fortan die Wirtschaft (global).
Abgrenzungskriterien
Mit dem glänzenden amerikanischen Publizisten Henry Hazlitt besteht der Unterschied zwischen guter und schlechter Wirtschaftspolitik in deren langfristiger Ausrichtung und ihrer
Allgemeingültigkeit oder aber leider in Kurzfristigkeit und Gruppenprivilegien. Dementsprechend gilt für eine gute Ordnungspolitik, dass sie einen Rahmen setzt, aber nicht in die Marktprozesse eingreift. Vor allem Preise als wichtigster Informationsanzeiger, zu denen es keine annähernd hilfreiche Alternative gibt, sind für gute Ordnungs- und Wirtschaftspolitik tabu. Von grundlegender Bedeutung ist, dass der Staat selbst nicht wirtschaftlich tätig wird. Die Abgrenzung vom Marktprozess bleibt indes schwammig.
Wie unterschiedlich sich die Ordnungen entwickeln, zeigen die Geschichte der DDR, gekennzeichnet durch das autoritäre SED-Regime und die Planwirtschaft, der BRD mit demokratisch gewählten Regierungen und der Sozialen Marktwirtschaft sowie dem beobachtbaren Systemwechsel zum Etatismus, aber auch die Entwicklung der USA vom Minimalstaat zum „Welfare and Warfare State“.
Ordnung prägt
Von der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hängen die Freiheit des Einzelnen und die Entfaltungsmöglichkeit der wirtschaftlichen Kräfte ab, z.B.: Kann ich mein Verhalten an mein gesundheitliches Risiko anpassen oder gibt es pauschale Vorgaben und sogar Verbote (Lockdown)? Darin ist zweitens enthalten, dass durch Ordnungspolitik geschaffene Regeln das Verhalten der Menschen steuern, z.B.: Ist es wegen der Steuer- und Abgabenlast sowie der Transfers in Deutschland vernünftiger, „schwarz“ oder wenig oder gar nicht zu arbeiten und lohnt es sich in Deutschland ein Unternehmen zu gründen oder besser an einem anderen Standort? Damit geht drittens von der Ordnungspolitik eine entscheidende Prägekraft auf die Gesellschaft aus, z.B.: Bin ich für meine Lebensumstände selbst verantwortlich oder der (Sozial)Staat? In welchem Ruf stehen Unternehmen? Welche Bildung soll ich anstreben – eine akademische oder handwerkliche?
Koordinatensystem
Eine freiheitliche Ordnungspolitik macht die Freiheit des Einzelnen zum Ausgangspunkt aller Überlegungen und Gestaltungen. Mit der Freiheit des einzelnen Menschen sind Eigentum, Entscheidungsfreiheit und die Verantwortung für das eigene Handeln unauflösbar verbunden. Was zählt, ist nicht die gut gemeinte Intention, sondern das selbst bestimmte, messbare Ergebnis.
Freiheitliche Ordnungspolitik ist Prinzipien geleitet, nicht opportunistisch, und langfristig ausgerichtet; sie dient nicht Sonderinteressen, sondern den Interessen der Allgemeinheit. Der praktizierte wirtschaftspolitische Punktualismus ist das Gegenteil von Ordnungspolitik. Zugleich werden liberale Werte wie Freiheit, Eigentum und Herrschaft des Rechts nicht nur aus Gründen der Nützlichkeit verteidigt, sondern auch als Prinzip im konkreten Einzelfall.
Ordnungspolitik lässt sich indes nicht nur als staatliche Politik verstehen, der Begriff kann weiter gefasst werden. Das beginnt mit der persönlichen Haltung eines jeden Menschen, setzt sich mit Reden über die Ordnung und alltagspolitischem Engagement fort und schließt das tägliche Handeln ein. Interessant wird es besonders bei Alternativen zur bestehenden staatsdominierten Ordnung, die viel stärker dezentral, demokratisch und bürgerlich fundiert sein müssten, um den globalen Trends in Technik, Vernetzung, Gruppenbildung und lokalen Besonderheiten zu entsprechen.
Ordnungspolitik kann, wohl verstanden, wohl fundiert und konsequent beachtet, ein Koordinatensystem bilden und als Kompass dienen, mit dem wir aus den hausgemachten Krisen der letzten Jahrzehnte herausfinden, wenn sachgerechte Vorschläge sich in Politikergebnissen manifestieren. Ordnungspolitik trachtet nicht danach, die Grenzen des Wohlstands zu testen oder enger zu ziehen. Mit einem Bild: Ordnungspolitik will Kühe (Unternehmen) nicht schlachten oder ihre Lebensbedingungen verschlechtern, sondern diese gedeihen lassen, und betreibt insofern eine Angebotspolitik. Zugleich dominiert die Konsumentenpolitik des mündigen Bürgers, der der König der Marktwirtschaft ist, und nicht der betreuungsbedürftige Verbraucher. Ein kleines aktuelles Beispiel ist die sachliche Klarstellung der sogenannten Übergewinnsteuer durch Christian Lindner auf LinkedIn.
Ordnungspolitik ist keine Ideologie, sondern eine kluge Art in Zusammenhängen zu denken, die in der Ordnungstheorie wurzelt. Ordnungspolitiker wissen was zu tun ist – in der Atom- und Energie-Politik, Arbeitsmarkt-Politik, Bau- und Immobilien-Politik, Bildungs-Politik, Corona-Politik, Euro-Politik, bei der Verbesserung der Infrastruktur, in der Handels-Politik … bis zur Sozial-Politik, Wettbewerbspolitik und Zollpolitik.
Literaturtipp – publizistisch mehr zur Ordnungspolitik => Michael von Prollius: Auf der Suche nach einer anderen Ordnung, Fürstenberg 2014.