Krise und Normalität – Konstruktion und Realität
Krise und Normalität – Konstruktion und Realität

Krise und Normalität – Konstruktion und Realität

Wir leben in einer Krisenzeit, einer Zeit von Großkrisen. Seit fast zwei Jahren herrscht ein gesundheitspolitischer Ausnahmezustand. Seit mehr als zehn Jahren leben wir in und mit einer geldpolitischen Krise. Die Flüchtlingskrise liegt als Ereignis zwischen den beiden Großkrisen und wird von der Megakrise Klimawandel überlagert.

Was assoziieren Sie mit Krise? Verbreitet ist die Annahme, die Lage verschlechtert sich. Wir sind einem akuten Risiko ausgesetzt. Krise als negative, bedrohliche Entwicklung. Vielleicht verbinden Sie auch eine Zuspitzung und einen Wendepunkt mit einer Krise.

Liberale sehen Krisen zuweilen als etwas Normales an und als eine notwendige Veränderung zum Besseren. Die Finanz- und Staatsschuldenkrise ist in liberaler Perspektive und in der Österreichischen Konjunkturtheorie eine klassische Bereinigungskrise für eine unhaltbar gewordene Geldpolitik. Die daraus resultierenden Fehlinvestitionen müssen aufgegeben werden, weil sie auf irrealen Annahmen beruhend und gegen ökonomische Gesetze verstoßend, nicht durchzuhalten sind. Ein künstlicher Immobilienboom finde stets ein Ende. Eine Inflationspolitik ebenfalls. Als Reaktion auf Klimaänderungen sind Innovationen, Wachstum und (bauliche) Anpassungen besonders geeignet.

Liberale richten ihre Aufmerksamkeit auf den Staat, die Politik, die Herrschenden. Die oben genannten Krisen sind in dieser Perspektive wesentlich politische Krisen, Krisen der Herrschenden. Auch die Corona-Krise erscheint zusehends als eine durch Politik und Behörden konstruierte Krise. Das Schüren von Angst gehört dazu.

Krise braucht Normalität

Was ist eine Krise? Krisen sind Abweichungen von der Normalität. Beide – Krise und Normalität – sind Prozesse, keine statischen Zustände. Wer die Normalität überzeugend beschreiben kann, der kann substanzielle Abweichungen davon zu einer Krise erklären. Krise dient als Bezeichnung einer Entwicklung, bei der das Normale für längere Zeit aussetzt; dabei handelt es sich um eine „Störung wiederholter, ineinandergreifender Abläufe mit Hoffnung auf Besserung und Rückkehr zum Normal-Zustand“, konstatierte Gerhard Schulze schon vor mehr als zehn Jahren in seinem Essay „Krisen“ bei der Vontobel Stiftung.

Krisen sind stets menschliche Konstruktionen. Krisen werden konstruiert und kommuniziert.

Wenn das so ist, dann wird klar, warum Corona grundsätzlich unterschiedlich wahrgenommen wird, je nach Standpunkt des Betrachters. Für alle, die ein geringes oder marginales Risiko – verstanden als Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens – für die Gesundheit haben, ist Corona keine tatsächliche, allenfalls eine konstruierte Krise. Mit zunehmendem Wissen über das persönliche Risiko und mit wachsenden Impfangeboten sollte das auf eine wachsende Zahl von Menschen zutreffen, die weit überwiegende Masse der Bevölkerung.

Krisenbausteine und gestörte Normalität

Wer eine Krise konstruiert, benötigt mehrere Bausteine: eine Theorie des Normalen, ein Modell zur Diagnose und ein Modell für Kausalzusammenhänge. Alle drei Elemente sind wiederum menschliche Konstruktionen. Die Krux ist, dass es ohne ein Normalitätsmodell keine Krise gibt, weil eine Veränderung keine Störung ist und die Wiederherstellung der Normalität eine Begründung benötigt, warum sie wieder hergestellt werden soll.

In der Corona-Politik-Krise scheint das derzeit sowohl problematisch als auch einfach zu sein. Problematisch, weil für viele Beobachter unklar ist, worin die Störung der Normalität durch Omikron besteht und inwieweit eine Störung der Normalität (Gesundheitsrisiko) zuvor bestanden hat, die kollektive Zwangsmaßnahmen rechtfertigt. Schließlich kann jeder normale Mensch sich durch eine Impfung, durch freiwilliges Maskentragen, durch freiwillige Isolation schützen. Es bleibt der Hinweis auf das Risiko von zu wenigen Intensivplätzen. Zugleich verfügte Deutschland zum Pandemiebeginn über die meisten Intensivbetten pro Kopf und vier Mal so viele wie Italien nach OECD-Angaben. Einfach ist es, weil derart weitreichende Eingriffe in die Grundrechte von vielen Menschen als ungerechtfertigt und unbegründet angesehen werden. Außerdem erleben normale Menschen tagtäglich die negativen Folgen, z.B. als Eltern mit Kindern im Lockdown.

Krisenpolitik und Störungen

Führer möchten entscheiden. Gerade in Krisen gelten vor allem starke Männer als Lösung. Liberale sind skeptisch. Mit Fritz Machlup ist Wirtschaftspolitik überwiegend Krisen verursachende Politik (Seine allgemein verständliche Darstellung grundlegender wirtschaftspolitischer Zusammenhänge aus dem Jahr 1934 ist immer noch sehr lesenswert). Diese Perspektive lässt sich auf die Corona-Politik und ihre negativen Folgen übertragen, darunter die drastischen Folgen für Kinder und deren Gesundheit, körperlich und psychisch. Kritiker werden fragen, wie es möglich ist, dass es symptomlose Kranke gibt. Und worin das gesundheitspolitische Problem besteht, wenn diese andere Menschen anstecken, die ebenfalls symptomlos krank sind oder Symptome einer Erkältung haben.

Wie in der Wirtschaftspolitik kann das Gutgemeinte zu Übelständen führen. Der Kipppunkt ist regelmäßig der Wechsel vom Individuum zum Kollektiv. Makroökonomie ohne Mikrofundierung, Modelle, die nicht zur Realität passen, das ist Vodooökonomie, Religion.

Sobald nicht die Gesundheit des einzelnen Menschen im Mittelpunkt steht, sondern Zahlen von Kollektiven und Erwartungen über künftige Entwicklungen, schaffen Politik, Bürokratie und Experten mit ihren abstrakten, aggregierten Annahmen eine konstruktivistische Realität. Leicht ausblenden lassen sich die Folgen für alle anderen Lebensbereiche.

Die Einhaltung von Vorschriften wird wichtiger als der Gesundheitszustand des einzelnen Menschen, z.B. Geimpfte müssen Masken tragen in Büros und beim Einkaufen und beim Betreten eines Restaurants, aber nicht in ihrer Privatsphäre, nicht beim Essen im Restaurant. Zugleich werden Masken unwirksam getragen (besonders FFP2), und es fehlt der Nachweis, dass Masken konkret wirksam sind. Ländervergleiche sprechen dagegen. Die Inzidenz regiert.

Zentralistische Krisenpolitik birgt mehrere strukturelle Probleme:

  1. Kollektive dominieren, Standardverfahren werden normiert und zementiert. Abweichungen sind nicht erwünscht, Anpassungen werden nur schwerfällig vorgenommen. Kollektivstandards passen nicht zur individuellen Situation und Person.
  2. Eine Kontroll-Hybris (Heiko Kleve) entsteht, die komplexen dynamischen Systemen und Prozessen wie Corona nicht gerecht wird und mit einer regelrechten Ausrichtung der Menschen auf Krankheit und Tod einhergeht.
  3. Die Frage: Wie wirkt es? erlangt als PR-Thema große Bedeutung und kann wichtiger werden als die bewirkten Ergebnisse. Der Mythos der Machbarkeit signalisiert, man könne und müsse etwas tun. Symbolpolitik ist eine Folge.

Krise und Risiko

Die Konstruktion einer Krise kann gravierender sein als die Krise selbst. Krisendiskurse nähren heute ein antimodernes Paradigma, Normalität ist das Gesunde, die Krise das Kranke. Befürworter und Kritiker der Politik werden in Stellung gebracht – Grabenkämpfe über unterschiedliche Konstruktionen brechen auf.

Krisen werden von der Wirkungsseite aus wahrgenommen mit der Frage nach den Ursachen. Also, wieso kann es zu einem Engpass bei der Feuerwehr und Polizei kommen – Corona oder Corona-Vorschriften?

Risiken werden von der Ursachenseite aus betrachtet mit der Frage nach den Wirkungen. Also, welchen Nutzen und welche Folgen hat die Corona-Politik für Kinder und gesunde Erwachsene?

Daran anschließen lässt sich eine Frage, die zunehmend an Brisanz gewinnt: Welches Risiko birgt die Krise? Das gilt beispielsweise für Lieferketten, für beeinträchtigte Grundrechte, für eine Impfpflicht.

Krisenende

Wann ist eine Krise beendet? Bei Handlungen gehe es nicht um richtig oder falsch, sondern um zweckmäßig oder unzweckmäßig. Und zweckmäßig erscheint nach zwei Jahren Krisenpolitik nicht mehr viel. Das gilt umso mehr als die amtliche Datenlage immer noch unklar und undurchsichtig ist. Hinzu kommen Zweifel an den behördlichen Kriterien, insbesondere der Inzidenz. Vor allem gibt es kein Ziel, das erreicht werden kann, um zur Normalität überzugehen. Soll die Krisenkonstruktion zu einem Dauerausnahmezustand führen?

Krisen können produktive Entwicklungen sein, wenn man sie meistert und etwas lernt, das zu besserem Handeln führt. „Crisis“ bedeutet in der Antike noch wertneutral „Entscheidung“, in der Neuzeit wurde daraus der Höhe- oder Wendepunkt einer Krankheit. Erforderlich ist mehr als ein ritualisierter Konsens, nämlich organisierte Skepsis. Zweifel ist ein selbstverständlicher und unerlässlicher Bestandteil eines Diskurses. Kritik und deren Demonstration sollte selbstverständlich ein Bestandteil von Diskursen sein und nicht als Angriff gewertet werden, der mit einem Gegenangriff beantwortet wird.