Je älter man wird, desto mehr glaubt man zu wissen und zwar insbesondere, was man alles nicht weiß. Das ist insofern ungewöhnlich als wir in einer Zeit leben, die sich der Jugendlichkeit verschrieben hat. In „Ewige Jugend“ untersuch der in Stanford lehrende Literaturprofessor Robert Pogue Harrison diese quer zur Menschheitsgeschichte liegende Entwicklung und rät, die Weisheit großer Denker wachzuhalten und als Quelle künftiger Erneuerungen zu nutzen.
Nun kann nahezu jede Denktradition, wenn schon nicht von der Weisheit, so doch auf dem Wissen ihrer Vordenker aufbauen. Weisheit gilt als Tugend, sie zeichnet sich durch ein tiefgehendes Verstehen von Zusammenhängen und deren klare Vermittlung aus. Weisheit beruht auf Wissen als Kenntnis von zutreffenden Theorien, Daten, Informationen und Methoden. Liberale können viel bieten, wenn es um soziale, wirtschaftliche und politische Themen geht. Das gilt auch für aufschlussreiches analytischen Denken.
Was ist damit gemeint?
- Liberale gehen in ihren Betrachtungen vom handelnden Individuum aus. Das gilt sowohl für die primäre Perspektive auf soziale Tatsachen als auch methodisch.
- Zugleich berücksichtigen Liberale nicht nur individuelle Handlungen, sondern auch Strukturen und Rahmenbedingungen, die vereinfacht unter dem Begriff Institutionen subsumiert werden können.
- Liberale analysieren stets auf eine Theorie gestützt. Das ist besonders wichtig, weil Daten an sich dumm sind und nicht für sich selbst sprechen.
Das macht Liberalen weder allwissend noch resistent gegen Fehler. Allerdings immunisiert der Dreiklang gegen Großerzählungen ohne Bodenhaftung (Makrotheorien ohne Mikrofundierung wie Marxismus), Moden, Mehrheitsmeinungen und den Mythos der Machbarkeit. Außerdem lenkt es die Aufmerksamkeit auf komplexe dynamische Systeme, die uns umgeben und von denen wir tagtäglich ein Teil sind, allzu häufig ohne es uns bewusst zu machen.
Drei alltägliche Beispiele können das illustrieren.
„Ich, der Bleistift“ (Link zur englischen Originalversion (Text, Audio, Video) und deutschen Übersetzung) gehört zu den berühmtesten Essays über Marktwirtschaft, Arbeitsteilung und die spontane Ordnung. Leitfrage des wenige Seiten umfassenden Textes ist: Wer kann einen Bleistift herstellen? Die Antwort lautet: Niemand allein.
Die Herstellung eines Morgenkaffees ist ähnlich komplex. A. J. Jacobs hat deshalb in seinem Buch „Thanks a Thousand“ eintausend Menschen persönlich gedankt, die an der Herstellung seines Bechers Morgenkaffee unmittelbar und mittelbar mitgewirkt haben – vom Coffee Shop über die Hersteller des Deckels vom Kaffeebecher bis zu den Plantagenarbeitern.
Da alle guten Dinge drei sind, sei an dieser Stelle noch die sehr schön gestaltete Homepage „It’s a Wonderful Loaf“ erwähnt. Dort hat Russ Roberts sein wunderbares Gedicht über die arbeitsteilige Herstellung eines Brots veröffentlicht – mit Audio- und Videobeitrag. Das Gedicht steht in der Tradition der wunderbaren Arbeitsteilung von Adam Smith, der von Friedrich August von Hayek herausgearbeiteten Funktionsweise der spontanen Ordnung sowie der Beobachtung von Frédéric Bastiat, die Einwohner von Paris würden ruhig schlafen können, obwohl es keinen Brot-Baron gebe, der die Herstellung und Verteilung von Brot organisiert
Wissenskoordination
Liberale in der Tradition der Österreichischen Schule, auch Wiener Schule genannt, in den USA Austrians, betrachten Marktwirtschaft als ein Koordinationsproblem. Und der Schlüssel zur Koordination ist die Entstehung und das Zusammenführen von Wissen. Wie kann das gelingen? Nicht dadurch, dass Experten die „richtigen“ Entscheidungen treffen, weil sie unwissend sind. Mit dem Nobelpreisträger Daniel Kahneman kann ein Mensch höchstens sieben Faktoren kombinieren, aber schon die Feedbackschleifen von z.B. Eingriffen in eine Gesellschaft oder einen Markt nicht überschauen. Das leisten dezentrale Systeme. Institutionen spielen dabei eine wichtige Rolle. In der Marktwirtschaft sind für die Koordination der Ressourcen Informationen unerlässlich und die benötigen drei P: Privateigentum, Preise und Profite/Verluste. Von der unsichtbaren Hand sind also schon einmal drei Finger erkennbar.
Wesentlich für die Entstehung von Wissen ist nunmehr zweierlei: Erstens entsteht Wissen in einem Prozess. Märkte sind keine Orte, sondern Prozesse, und die Teilnehmer entdecken erst im Verlauf der Koordination wesentliches Wissen. Zweitens ist ein entscheidender Teil des Wissens implizit. Man kann es schwer dokumentieren, katalogisieren, in ein Handbuch pressen. Dieses Erfahrungswissen ist Liberalen geläufig.
Interventionsanmaßung
Gerade deshalb sind sie so zurückhaltend, wenn es um Eingriffe in Märkte und in die Gesellschaft geht. Ich finde nach wie vor das Milchpreisbeispiel von Ludwig von Mises eine faszinierende Schilderung der schlimmen Folgen, die gut gemeinte Interventionen nach sich ziehen. Mises kannte die individuellen Handlungsmuster, Anreize und Rückkopplungsgeflechte als Chefökonom Österreichs sehr genau. Das Beispiel lässt sich auf viele andere Politikbereiche übertragen, beginnend mit der Außenpolitik.
Leider aktuell wie lange nicht ist die Nobelpreisrede von Friedrich August von Hayek über die Anmaßung von Wissen. Als Warnung an seine Ökonomen-Kollegen gerichtet, betrifft sie heute alle Lebensbereiche, in die die Regierungen und ihre Experten eingreifen wie seit Jahrzehnten nicht. Worum geht es Hayek?
Unwissen und Anmaßung
Eine Regierung, ein Parlament, eine Kommission oder eine Planbehörde kann niemals das gesamte Wissen der Menschen eines Landes in sich vereinigen; weder hinsichtlich ihrer Wünsche und Präferenzen, noch hinsichtlich ihrer (kostengünstigen) Verfahren diese zu erreichen. Hinzu kommt, dass keine einheitliche Werteskala für alle Menschen existiert. Vielmehr hat sich die Pluralität moralischer Normen in einem jahrhundertelangen Prozess entwickelt. Damit stehen Politiker wie Experten vor einer unlösbaren Aufgabe: Wollen sie die moralisch vielfältigen Auffassungen nicht einfach standardisieren und damit abschaffen, dann müssen sie alle angestrebten Endergebnisse und den Weg ihrer Erreichung planen. Da es aber niemals genug Mittel gibt, um alle Interessengruppen zufrieden zu stellen, müssen zwangsläufig einzelne Gruppen bevorzugt werden. Das Wissens- und das Werteproblem führen unausweichlich zu Verteilungskampf und Ungerechtigkeit. Sogar die Corona-Politik ist dafür ein anschauliches Beispiel.
Entdeckungsverfahren
Welche Lehre können wir daraus ziehen? Bescheidenheit ist die Devise. Wir sollten auf die Anmaßung von Wissen verzichten. Niemand verfügt über die Kenntnis oder die Macht, die Vorgänge in unserer Gesellschaft und die Ergebnisse zu gestalten. Alle die das behaupten, richten Schaden an. Unsere Aufgabe ist es daher, eine günstige Umgebung zu schaffen, wie der Gärtner dies für seine Pflanzen tut. Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren kann dann viel richten, gerade als zwischenstaatlicher politischer Wettbewerb.