Krisen der Demokratie
Krisen der Demokratie

Krisen der Demokratie

Ein zeitlos anregendes und aktuelles Interview in Form eines Buches, erstmals von mir besprochen bei H-Soz-Kult 2003, dort zusammen mit seinen Lebenserinnerungen.

Hier der Textauszug zu “Die Krisen der Demokratie”:

Das gleichermaßen kurzweilige wie kluge Gespräch Ralf Dahrendorfs mit Antonio Polito, Korrespondent der römischen Tageszeitung „La Repubblica“, die für Dahrendorf das intellektuelle Rom verkörpert (Grenzen, S. 151), hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Der Leser, der gleichsam als Zuschauer dem Gespräch beiwohnt, nimmt auf weniger als 120 Seiten, gegliedert in zehn Abschnitte, Teil an einer differenzierten und pointierten Bestandsaufnahme aktueller Gefährdungen und Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, Europa und Amerika. Die Überlegungen des bedeutenden Vertreters der liberalen Gesellschafts- und Staatsidee kreisen um seine eingangs formulierte Definition der Demokratie, als ein „Ensemble von Institutionen“, die politische Machtausübung in dreierlei Hinsicht legitimieren: 1. Ermöglichung gewaltloser Veränderungen, 2. Kontrolle und Balance der Machtausübenden, 3. Partizipation der Bürger an der Machtausübung. (Krisen, S. 9)

In dieser Sicht erscheint die aktuelle Krise der Demokratie als eine Krise ihrer Institutionen. In einer globalisierten Welt wirken ihre alten Funktionsmuster nur noch unzureichend: „die gegenwärtige Krise der Demokratie [ist] […] eine Krise der Kontrolle und der Legitimität angesichts der neuen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen“, so jedenfalls lautet die Diagnose des britischen Lords (Krisen, S. 10). Das post-demokratische Zeitalter hat begonnen. Es ist gekennzeichnet durch eine Krise der Nationalstaaten, dem existenziellen aber überkommenen Bedingungsraum der Demokratie, durch eine „grundsätzlich desinteressierte und apathische Bevölkerung“ (Krisen, S. 91), durch einen Bedeutungs-, d.h. Kontrollverlust der Parlamente, hervorgerufen durch die aufkommende Konkurrenz von Nichtregierungsorganisationen, multinationalen Unternehmen und Einzelpersonen respektive einer entstehenden globalen Klasse. Mit ihnen ist ein Verlust an Transparenz beim Fällen von Entscheidungen verbunden, der zu einem „schleichenden Autoritarismus“ (Krisen, S. 91) etwa in England, Italien und den USA führt. Umso dringlicher werde eine effiziente Beteiligung von Bürgern und Völkern an politischen Entscheidungen. In der „romantischen Sehnsucht nach einer untergegangen Welt, in der die nationale Politik noch die Wirtschaft kontrollierte“, wie die destruktive Polemik einer Vivianne Forrester suggeriert, sieht Dahrendorf eine Gefahr, die in ähnlicher Form (Modernisierungskritik) bereits dem Nationalsozialismus den Boden bereitet habe (Krisen, 26).

Der ehemalige Europakommissar sieht Europa mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert. Da ist einerseits die Schwäche der EU, die ohne Volk und ohne politische Klasse bleibt, und andererseits die „Globalisierung“ (Krisen, S. 27), die Gleichzeitigkeit internationaler Entgrenzung und regionaler Abgrenzung mit ihren aggressiven und intoleranten Tendenzen. Dahrendorf, der dem Niedergang der alten Ordnung, in deren Zentrum die Parlamente standen, offen nachtrauert, fordert zur Wachsamkeit auf. Die Aufrechterhaltung der bewährten liberalen Ordnung müsse sich stärker an der Durchsetzung liberaler Prinzipien, weniger an liberalen Institutionen, orientieren (Krise, S. 113). Unerlässlich bleibe die Aufgabe, dem Rechtsstaat weltweit zur Geltung zu verhelfen. Darüber hinaus sieht Dahrendorf die Stärke der Demokratie in fundierten Debatten, bei denen gewissermaßen der zwanglose Zwang des besseren Arguments die Entscheidung bringt. Diese grundsätzliche Stärke ist derzeit eine zentrale Schwäche der Demokratie.

Eine besondere Herausforderung ist die Überbrückung der zunehmenden Distanz von Machtausübenden und Bevölkerung. Wie lassen sich die Bürger beteiligen? So lautet eine Frage, auf die das Gespräch keine befriedigende Antwort zu geben vermag, wie überhaupt die Visionen hinter der Krisenanalyse zurücktreten. Dennoch findet sich der Leser und Betrachter des Gesprächs nicht zwischen den Stühlen wieder. Eine gleichermaßen schlichte wie wichtige Botschaft hebt Dahrendorf zum Schluss hervor: In einer komplexen, schwierigen Welt gibt es keine einfachen Antworten. Die politische Führung ist daher verpflichtet zu führen und nicht ihr Fähnlein in den wechselnd böigen Wind der Unzufriedenheit der Wähler zu hängen. Gleichzeitig bestehe die Stärke der liberalen Ordnung in der Möglichkeit, „zu einer Vielzahl von Fragen eine Vielfalt von Positionen auf vielfältige Art und Weise zu äußern“ (Krisen, S. 116). Gesucht wird also letztlich ein Ersatz für den Funktionsverlust der Parlamente. So bleibt der Eindruck haften, dass diese komplexe Suche nach Antworten einer existenziellen Aufgabe nahe kommt, bei der liberale Prinzipien Mittel und Ziel zugleich sein können.

Dahrendorf, Ralf: Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch mit Antonio Polito. München 2002, C. H Beck Verlag, 116 S. 12,90 Euro.