Vom Wesen des Anarchismus: Autonomie
Vom Wesen des Anarchismus: Autonomie

Vom Wesen des Anarchismus: Autonomie

Vom Wesen des Anarchismus: Autonomie

Anarchismus ist ein gebrauchter Begriff und ein mitunter missbrauchter, darin dem Neoliberalismus ähnlich. Stefan Blankertz verhilft dem klassischen Anarchismus zu neuem Ansehen, ohne ein einseitiges Liebeslied zu singen. Seine Ideen- und Sozialgeschichte porträtiert maßgebliche europäische und amerikanische Denker des Anarchismus, beginnend mit dem „Vater des Anarchismus“ Proudhon bis zur Bedeutungslosigkeit im spanischen Bürgerkrieg und den fehlgeleiteten, Gewalt affinen Strömungen der 1960er und 70er Jahre. Fortgeführt mit der Quäkerin Anne Hutchinson bereits um die Wende zum 17. Jahrhundert in den USA über Stefan Blankertz‘ Godfather Paul Goodman und Murray Rothbard bis zum Abgesang durch Murray Bookchin. Zusammen sind das 21 ideengeschichtliche Schraffuren, die von einer Einführung, einem europäischen Nachkriegskapitel und einem Ausblick auf die Zukunft des Anarchismus vervollständigt werden. Dabei werden auch erfolglose Denker erwähnt. Ein Begriffs- und ein Personenregister sowie eine kleine Bibliothek des Anarchismus als Bibliographie sind wertvolle Beigaben. Die jahrelange Beschäftigung mit dem Anarchismus, vielleicht sollte man mit den Anarchismen sagen, wird beim Lesen durch viele Interpretationen, Querverbindungen und abgewogene Betrachtungen deutlich.

„Nur ein altmodisches Liebeslied?“ kann man als Handbuch verstehen, das Glanz und Elend des klassischen Anarchismus aufzeigt, weil man es gerne zur Hand nimmt. Die lehrreiche Ideengeschichte des Anarchismus ist indes mehr, nämlich eine dezidiert persönliche Studie aus der Perspektive des führenden anarchokapitalistischen und vielleicht anarcholiberalen Intellektuellen im deutschsprachigen Raum – und eine politische Theorie.

Zwei Beispiele dafür, dass das Lesen Freude bereitet und jede Menge Ein- und Quersichten bietet. Zunächst der erste Satz im Kapitel III: „Niemand prägt das Bild des Anarchisten nach wie vor so wie Michael Bakunin (1814-1876). Er ist die mächtigste Figur des europäischen klassischen Anarchismus.“ (S . 41) Dann – zum Nachdenken: „Die denkerische Leistung des klassischen Anarchismus in Europa bleibt es, ein für alle Mal geklärt zu haben, dass Krieg, Verfolgung und Gewalt nicht etwa Sonderzustände des Staats sind, vielmehr dessen Dasein schlechthin.“ (S. 111f.)

Die Geschichte des Anarchismus lässt sich als Tragödie begreifen, gescheitert an der Staatsgewalt in vielfacher Hinsicht, nicht zuletzt aufgrund falscher Freunde, etwa dem Marxismus als einem der schwerwiegendsten Auswüchse des Etatismus, real existierend als ein „wahnwitziger Bürokratismus“ (S. 127). Und, so betont Stefan Blankertz, gescheitert mangels richtiger Freunde: Die Liberalen wandten sich ebenfalls dem Staat zu. Damit rückt vielleicht das zentrale Bindeglied zwischen beiden Strömungen in den Mittelpunkt. Stefan Blankertz nimmt Paul Goodman beim Wort, der das Hauptprinzip des Anarchismus nicht in der Freiheit, sondern vielmehr in der Autonomie begründet sah. (S. 223f.) Wäre, so ließe sich fragen, Autonomie vielleicht auch für Liberale das Hauptprinzip? Freiheit klingt zuweilen recht abstrakt. Autonomie ist auf den einzelnen Menschen bezogen, in seiner Verbundenheit mit den Menschen und der ihn insgesamt umgebenden Welt. Wer keine Erfahrung mit Autonomie hat, wende sich Führern und dem Staat zu, so Paul Goodman. Ergänzen ließe sich, wer Erfahrungen mit Autonomie macht, lernt vielleicht die Eigenständigkeit, Stärke und Einzigartigkeit einer, seiner Persönlichkeit schätzen. Stets werden das Soziale und die Gesellschaft dezentral und individuell von den Menschen gedacht.

Können die beiden Verlierer der Geschichte – Anarchismus und Liberalismus – gemeinsam zurückkehren? Dazu würde absehbar auch eine Anpassung an die heutige ökonomisch und sozial gewandelte Welt gehören, ohne in Populismus abzugleiten. Die Unfähigkeit das nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun, ließ den Anarchismus geradezu eingehen. Der neue Liberalismus folgte wenig später. Den Anarchisten wurde ihr Antikapitalismus zum Verhängnis, was wiederum eine anarchokapitalistische Strömung in den USA entstehen ließ, die sich erheblicher Aufmerksamkeit gerade unter jungen Menschen erfreut. Stefan Blankertz ist der Auffassung, dass Anarchisten sich auf ihre liberalen Wurzeln besinnen sollten. Wer würde ihm widersprechen? Ein klassischer Liberaler nicht. Die Welt gewinnt durch mehr Autonomie und Freiheit an Glanz und verliert viel Elend.

Stefan Blankertz: Nur ein altmodisches Liebeslied? Glanz & Elend des klassischen Anarchismis, edition g. 127, BoD Berlin 2023, 324 S., 20,00 Euro.
Ein Standardwerk. Erneut begegnet uns ein wohl lektoriertes und sehr schön gestaltetes Buch. Vorbildlich für manchen Verlag.