Warnung vor dem postmodernen Totalitarismus (mit Nachtrag)
„Die offene Gesellschaft benötigt keinen öffentlichen Raum, der durch staatlich finanzierte Medien, Bildungsinstitutionen und Wissenschaft sowie eine staatlich organisierte Wirtschaft gelenkt wird.“ konstatiert der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld am Ende seiner Untersuchung und weist den Weg: „Der öffentliche Raum bildet sich bereits dann von selbst, wenn alle ihre Talente in einer arbeitsteiligen Wirtschaft einbringen können. Verschiedene Bildungsinstitutionen stehen dann auch im öffentlichen Raum miteinander in Konkurrenz, was ihre Qualität fördert … Das gleiche gilt für die ideologisierte statt an Qualität orientierte Wissenschaft. Kurz, Austausch ergibt sich von selbst durch Pluralismus, sofern ein Rechtswesen besteht, das konsequent gleiches Recht für alle durchsetzt.“ (S. 181)
Das Buch hat es in sich. Es ist ein Mutmacher. Es ist ein Wegweiser. Und man kann darin mehr sehen als „nur“ ein Stoppsignal gegen autoritäres staatliches Handeln, nämlich ein Startsignal für Strukturreformen von großer Tragweite. Michael Esfeld ist Mitglied der Deutschen Nationalen Akademie der Wissenschaften.
Die Zeitenwende birgt eine bisher kaum berührte Dimension. Die Staatsfrage, also die politische Frage wie wir künftig leben wollen. Wer der Auffassung ist, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann und sollte und es mit ein paar wirtschaftspolitischen, rechtlichen, infrastrukturellen, die Meinungsfreiheit betreffenden Korrekturen nicht getan ist, der findet hier die Jahrhundertfrage: Sind private Lösungen die Alternative zum Staat in (fast) allen Bereichen?
Michael Esfeld setzt sich konsequent für eine Rückkehr ein zur um Objektivität bemühten Wissenschaft, für eine Rechtsordnung, die den Namen verdient, für eine Ethik, die nicht machtpolitisch instrumentalisiert wird und Lebensentwürfe vorgibt, zusammen genommen für eine Gesellschaft, in der der Staat den Bürgern und der Aushandlung ihrer Interessen folgt statt sie als Objekte zu behandeln.
Drei Schritte empfiehlt er: Urteilskraft wieder einsetzen, Skepsis gegenüber Machtkonzentration zur Geltung bringen, Zivilcourage zeigen – statt Schweigespirale und Mitläufertum, könnte man hinzufügen.
Jeder Leser entwickelt während und nach der Lektüre eigene Assoziationen. Zu meinen gehört Wilhelm Röpke bevor er ins Exil musste aufgrund der Zivilcourage. Esfeld lehrt bereits in Lausanne.
Damit stellt sich eine weitere Frage, die sich unterschiedlich beantworten lässt und die Wahrnehmung des Buches beeinflusst: Wie schlecht ist es um Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland und der EU bestellt?
Zurück zum Inhalt des Buches. Zwei große Kapitel und ein kleines. Nach einem lesenswerten Vorwort von Vera Lengsfeld und einer hilfreichen Einleitung folgt „Die Zukunft als Albtraum – Corona und darüber hinaus: die real existierende Postmoderne“. Michael Esfeld begründet anhand der Corona-Politik einen autoritären, faktenwidrigen Missbrauch und die Zerstörung von Wissenschaft und Rechtsstaat. Zudem weist er auf die Gefahr eines neuen Totalitarismus der vielen kleinen Narrative hin, darunter Corona, Klima, Krieg, Wokeness. Den Menschen werde suggeriert, ihre alltägliche Lebensweise gefährde Mitmenschen, Konformität mit der Staatsgewalt und Expertenlösungen seien die Lösung, Nonkonformität werde von sozialen Schädlingen praktiziert.
Das zweite große Kapitel ist ein wissenschaftsphilosophisches und ideengeschichtliches: „Wissenschaft und Rechtsordnung als Säulen der Moderne“. Die Entwicklung sei mit Platons Expertenstaat und dem Szientismus nach Descartes sowie der Machtballung im republikanischen Rechtsstaat nach Hobbes falsch abgebogen. Die Machtballung im Rechtsstaat führte zu einem das Recht aushebelnden Fürsorgestaat. Der politische Szientismus schalte eine objektive, skeptische Wissenschaft aus. Bestimmte Gruppen hätten die staatlichen und staatlich begünstigten Institutionen gekapert oder nutzten, wie im Fall des Staatskapitalismus, dessen Privilegien.
Man könnte angesichts dieser Diagnose die Frage stellen: Kehrt der Faschismus zurück – in seiner postmodernen Erscheinung?
Das kurze dritte Kapitel „Die Moderne wiederbeleben: wie wir unsere Zukunft zurückgewinnen“ geht von einem Scheitern der Staatsidee als Schiedsrichter und Ordnungswächter aus und enthält die Forderung nach einer umfassenden Entflechtung der staatlichen Machtkonzentration – ähnlich der Trennung von Staat und Kirche nun von den Wirtschafts-, Geistes, und Bildungssystemen zugunsten einer freien Selbstorganisation der offenen Gesellschaft.
Die nächsten drei bis fünf Jahre werden meines Erachtens zeigen wie es um die offene Gesellschaft und ihre Feinde bestellt ist.
Bis dahin bietet Michael Esfeld eine Provokation der Macht und politisch korrekter Denkweisen. Viele Passagen und einige Begriffe lohnen eine detaillierte Diskussion, nicht nur die etwas in der Luft hängende Fiat-Geld-These, der begründete, noch erweiterbare Szientismus-Vorwurf und die Deutung der Postmoderne, sondern auch eine angedeutete Kriegswirtschaft und die als offensichtlich angesehene Realisierung eines politischen Programms. Analytisch bemerkenswert, was die Konsequenzen betrifft tragisch, erscheint die systemisch-emergente Dysfunktionalität neuer autoritärer Staatlichkeit. Zugleich dürfte es für viele ein großer Sprung vom Etatismus in eine entstaatlichte Gesellschaft sein. Das ist politische Theorie. Öffentlich diskutiert und kritisiert werden darf noch stärker als bisher das, was Michael Esfeld mit „Versagen der Urteilskraft“ überschreibt und dazu Fragen aufwirft: Warum sollte es nur eine, zugleich beste Expertenstrategie zur Lösung eines Problems geben? Wieso sollten Politiker und ihre Berater über ein privilegiertes, überlegenes Wissen verfügen? Wieso sollten Politiker und ihre Berater das Allgemeinwohl verfolgen statt Sonderinteressen zu erliegen?
Diese Fragen lassen sich zu einer übergeordneten Frage zusammenfassen: Wer soll entscheiden – wir Bürger selbstbestimmt oder aber fremde Menschen für und über uns?
Michael Esfeld: Land ohne Mut. Eine Anleitung für die Rückkehr zu Wissenschaft und Rechtsordnung, Achgut Edition, Berlin 2023, 198 S., 24,00 Euro.
Nachtrag am 28.11.2023
Manchmal braucht das Denken etwas länger und kommt nur ein wenig voran, immerhin.
Angeregt durch einen Kommentar von Heiko Kleve auf LinkedIn zur Postmoderne und der sie kennzeichnenden Ambivalenz möchte ich einige ergänzende Überlegung anfügen. Wissenschaftsphilosophie kann eine Nähe zur politischen Theorie aufweisen, das gilt auch, wenn sich eine Publikation als publizistisches Produkt an eine breite Öffentlichkeit wendet. Politische Theorien zeichnen sich immer wieder dadurch aus, dass sie ein erhebliches Maß an Abstraktion und zugleich Eindeutigkeit aufweisen. Das ist auch bei Michael Esfeld der Fall, der vor einem postmodernen Totalitarismus warnt und Entstaatlichung empfiehlt. Es gibt indes verschiedene Szenarien für die weitere Entwicklung der gesellschafts- und staatspolitischen Lage in Deutschland und Europa. Totalitarismus wäre der Worst Case. Wie wahrscheinlich ist dessen eintreten? 30 Prozent? Die Warnung klingt nach vielleicht 70 Prozent? Der Leser erfährt es nicht.
Ich sehe in der Darstellung von Michael Esfeld an einigen Punkten etwas aufscheinen, das in der postmodernen Totalitarismusthese enthalten ist: Unser Gehirn bereitet uns vielfach auf besonders schlimme Entwicklungen vor oder konfrontiert uns mit diesen. Die Realität ist indes weit überwiegend nicht schwarz, sondern grau. Die verschiedenen Schattierungen darf man sich mit Loriot zu Gemüte führen. Totalitarismus ist ein sehr starker Begriff und, wie könnte es anders sein, ein umstrittener. Totalitarismus ist zudem voraussetzungsreich.
Heiko Kleve thematisiert Ambivalenz als Merkmal der Postmoderne. In dieser Perspektive wäre ein milderes Szenario naheliegend, ein Durchwurschteln ohne Abgleiten in autoritäre, wenn auch weiter zunehmende übergriffige staatliche Praktiken. Wahrscheinlichkeit? Höher als der Extremfall von m.E. vielleicht 15%, also 60%. Gründe: Für einen totalitären Staat müsste eine Überlagerung des Rechtssystems in vielen Bereichen wirksam werden, ähnlich wie Ernst Fraenkels Doppelstaat, und ohne wirksamen Widerstand zustande kommen. Eine Art Teufelskreis der Unterdrückung.
Ich finde die Forderung nach Entstaatlichung wichtig und weitreichend. Viel wäre indes bereits gewonnen, wenn echter Wettbewerb mit staatlichen Angeboten stattfinden könnte und der auch noch fair wäre. Darüber entscheidet allerdings der Staat, genauer sind das verschiedene Akteure und diejenigen, die sie beeinflussen und beraten.
Die Annahme einer ambivalenten Postmoderne bedeutet, Komplexität erkennen, die gerade auch eigenen begrenzten Perspektiven wahrnehmen und Chancen nutzen, die in einem intelligenten und toleranten Umgang damit bestehen. Im Grunde öffnet sich eine weitere Tür zur Freiheit. Damit können, vielleicht. wollen manche Menschen nicht umgehen. Problematisch, wenn das Führungskräfte sind. Das Begreifen der Welt wird anspruchsvoller – und schöner.