Einsichten durch Hitlers Sekretärin über Herrschaft
Erstaunlich spät habe ich die Aufzeichnungen von Hitlers Sekretärin Traudl Junge gelesen: Bis zur letzten Stunde. Das ist rund 20 Jahre nach ihrem Erscheinen der Fall. Das Buch ist in vielerlei Hinsicht relevant, z.B. als Zeitzeugendokument, außerdem geschichtspolitisch, ferner im Hinblick auf psychologisch-politischeLangfristwirkungen und die Schuldfrage.
Was mich beim Lesen der trockenen, vielfach ereignisarmen Darstellung indes beschäftigt hat, ist eine Art bilderreiche und durchaus emotionale Begleiterfahrung. Ich ziehe daraus ein paar Schlüsse, die einerseits zeitgebunden sind und andererseits zeitlos erscheinen. Mein Thema ist Herrschaft.
- Die Schilderungen des Alltags in der Wolfsschanze, im und um den Berchtesgadener Berghof sowie von Eisenbahnreisen geben Eindrücke von der Banalität des Bösen. Ich verstehe in loser Anlehnung an Hannah Arendt darunter die Alltäglichkeit von Hitlers Leben, die Routinen, die Ansichten, die Abläufe des Tages und die Bedürfnisse nach einfacher Gesellschaft als Begleiterscheinung einer bürokratischen Form von Herrschaftsausübung gerade bei drastischen, verbrecherischen Entscheidungen und Befehlen. Despoten mit ihrer simplen menschlichen Seite.
Eine humorvolle Übertragung wäre vielleicht Darth Vader auf dem Klo und beim Zahnarzt. Hitler mochte Apfelkuchen um Mitternacht, seine Gesellschaft lieber belegte Brote. Er brachte seinem Schäferhund beachtliche Kunststücke bei. - Damit verbunden ist eine Spießerideologie (Hermann Glaser), die sich im (mangelnden) Geschmack, in einer undifferenzierten, simplen Weltsicht verbunden mit Selbstüberschätzung und einem vermeintlich fachkundigen Dozieren über angelernte, aber selten tief verstandene Sachverhalte äußert. Damit verbunden ist eine gleichermaßen banale wie folgenschwere Anmaßung von Wissen, ein simples lineares Denken in Machtzusammenhängen. Wer auf den „Freundeskreis“ von Hitler schaut, mit welchen Führern er sich umgab: Was für (gefährliche) Flitzpiepen! Sebastian Haffner hat Hitler in Jekyll & Hyde treffend entlarvt.
- Die Anerkennung von Herrschaft, die konstruktivistische Seite, hinter der reale Macht steht, der vorauseilende Gehorsam, das Hacken zusammenschlagen, die bürokratische Subordination, der Mythos des Mächtigen, die zuweilen bis in religiöse Verehrung reichende Seite im Führerstaat – vor allem aber der alltägliche Gehorsam bei vielfachem Nonsens, das ist, was mich im negativen Sinne beeindruckt. Mir mangelt es nicht an Erklärungen. Es ist die geräuschlose Maschinerie, die menschliche Individualität und echten Respekt bei unterschiedlichen Ansichten und Lösungen pulverisiert, die zeitlos existiert und schockt.
- Dazu gehört eine vielleicht immer noch unterschätzte Abkapslung von der Realität. Der durch Lagevorträge, bürokratische Papierarbeit, endlose Reihen von Gesprächspartnern sowie bewusst realitätsferne Tischgespräche geprägte Alltag ist abgehoben vom Kämpfen, Sterben, verwundet werden, hungern, frieren, gefoltert werden, vom Elend in Konzentrationslagern, in Güterzügen, in zerbombten Städten, von Verfolgungsangst und einem Leben in Unterdrückung. Abweichende Ansichten werden verbannt, Informationen gefiltert. Und dennoch scheint die Entwicklung insbesondere 1944 selbst Hitler bis an den Rand des finalen Zusammenbruchs geführt zu haben.
Zeitlos
Extreme können besonders erhellend sein. Die Macht von Menschen über Menschen ist nicht auflösbar. Umso mehr gilt es sie einzuhegen, ihr entgegenzutreten.
Das gilt auch im beruflichen Kontext mit Regeln, Verhaltensweisen und Gepflogenheiten, die erlernt, praktiziert und eingefordert werden müssen. Agil statt Wasserfall. Kooperativ statt autoritär. Vieles spricht hier wie im Politischen für Dezentralität, für Non-Zentralität.