Ein Schreckgespenst wird an die Wand gemalt. Deutschland sei auf dem Weg in den Marktsozialismus. Die größte Bedrohung für Freiheit und Wohlstand sei der wiedererstarkende Sozialismus. Schlagzeilen häufen sich: Deutschland marschiert in Richtung Sozialismus. Einfallstor Sozialismus. Neue Lust am Sozialismus. Publizistisch ist das nachvollziehbar, zumal sensationalistisch.
Sozialismus redivivus ist indes eine problematische Warnung. Zumindest wenn man die Rückkehr des SED-Regimes mit seiner Zentralplanwirtschaft und der autoritären bis totalitären Machtausübung inklusive eines MfS-Überwachungssystems als Maßstab nimmt. Honnecker 2.0 und sein brutales Spießerregime stehen nicht ante portas. Niemand mit politischem Einfluss will die DDR wieder errichten, weder in Deutschland noch in der EU. Das gilt erst recht für das sowjetische Modell. Die Aufhebung des Privateigentums, das Festsetzen von Preisen und Löhnen, die Aufhebung der Individualrechte, des Unternehmertums, der politischen, letztlich aller Freiheit steht nicht auf der Agenda. Gemeint sein dürfte vielmehr die Warnung vor einem schleichenden Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft hin zu herrischen, rigiden Verhältnissen. Die Verwendung des falschen Begriffs ist ein folgenreicher Kategorienfehler.
Vor einer Rückkehr des Nationalsozialismus wird nicht gewarnt, aber vor Rechten und vor Nazis. Das ist bemerkenswert und könnte einen Erkenntnisverlust bedeuten. Politikökonomisch betrachtet illustrieren Nationalsozialismus und faschistische Regime der Zwischenkriegszeit Vermachtungen mit spezifischen Formen eines Primats der Politik, überwiegend fortbestehendes Privateigentum mit eingeschränkten Verfügungsrechten, ferner staatlich gelenkte Unternehmen und eine Transformation des Rechts für politische Zwecke. Die Nationalsozialisten errichteten im Frieden kleine Plan-, sondern eine Organisationswirtschaft.
In einer bei Cambridge University Press erschienenen Studie bezeichnet der amerikanische Ökonom Randall G. Holcombe diese Ordnung als eine extreme Form des Politischen Kapitalismus. Zu den Wesensmerkmalen gehört ein institutioneller Rahmen, der es der Elite ermögliche, das System zum eigenen Vorteil zu gestalten und dabei Produktivität vom Gewinn zu entkoppeln. Die politische Elite werde von der ökonomischen getragen, der wiederum Privilegien eingeräumt werden. Andere Analysten nennen das Neofeudalismus.
Im Politischen Kapitalismus werden Vorteile auf wenige Menschen konzentriert, während die Kosten viele zu tragen haben. Das erinnert an die Abwrackprämie, die Mietpreisbremse und an viele wettbewerbsfeindliche Regulierungen, die aus Kollaborationen zwischen Politik, NGOs und Konzernen entstehen. Eine unzureichende Gewaltenteilung erlaubt es den Mächtigen, das System zum Erhalt ihres Elite-Status zu gestalten. Das Problem ist folglich nicht ungezügelter Kapitalismus, sondern ungezügelte Politik. Die Marktwirtschaft wird nicht allein von Verbrauchern, sondern von politischen Koalitionen gelenkt. Produktivität und die Fähigkeit zur Innovation nehmen sukzessive ab. Sklerose macht sich breit, säkulare Stagnation genannt.
Der Charme des Ansatzes besteht wissenschaftlich in der fruchtbaren Verbindung etablierter interdisziplinärer Theorien: Ordnungsökonomik plus Elitentheorie plus Public Choice, gekaperter Regulierungs- und dysfunktionaler Wohlfahrtsstaat inklusive. Ein weiterer Vorteil: Sowohl Liberale mit ihrem Denken in den Kategorien Freiheit und Zwang als auch Linke mit ihrem Blick auf Unterdrückte und Unterdrücker finden Platz in dem Ansatz.
Zurück zum Sozialismus. Die wortgewaltige Warnung lenkt von einer weitaus trivialeren, aber fundamentaleren Gefahr ab: dem Etatismus. Das Politisieren von Wirtschaft und Gesellschaft birgt nicht nur die Gefahr, dass beide sukzessive dem Primat der Herrschenden unterworfen werden. Vielmehr dringen Rationalität und Logik der Bürokratie in Wirtschaft und Gesellschaft vor. Verordnungskonformes Handeln wird zur Leitlinie. Hierarchie tritt an die Stelle von Vielfalt, Dezentralität und Pluralismus in Wirtschaft und Gesellschaft. Moralisierung verstärkt das Einheitsdenken und die Sehnsucht nach einem Ende der Widersprüche. Sicherheit verdrängt das Entdeckungsverfahren. All das geschieht in einer disruptiven Zeit, die mehr denn je eine Vielfalt von Lösungsansätzen erfordert.
Es geht hier nicht um eine Kritik der Bürokratie oder des Staates per se, sondern um eine Kritik seiner ungerechtfertigten, aneignenden und distributiven Aktivitäten. Das führt zu einer Kritik des Exekutivstaates, dessen bürokratische Herrschaft sich auf Bereiche ausbreitet, in denen sie nichts zu suchen hat und Grundrechte eingeschränkt werden.
Die damit verbundenen Probleme sind mannigfaltig: Zentralisierung von Fehlern wie die politische Wahl der schlechtesten von sieben Alternativen für den neuen Flughafen in Berlin, ferner Interventionsspiralen und die Verregelung des Lebens. In Schwarzbüchern wird die jährliche Verschwendung dokumentierte. Hinzu kommen Strukturkonservierung für Interessengruppen, Anmaßung von Wissen, Präferenz für Einheitlichkeit, Langsamkeit und Standardisierung. Die Corona-Krise zeigt wie schwer sich Staatsführungen tun, trotz mehrmonatigem Vorlauf bis zur aktuellen zweiten Welle, und wie sehr pauschale Anordnungen an die Stelle differenzierter Betrachtungen von Regionen und Unternehmen mit optimalen Hygienekonzepten treten. Von einem integrierten gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Ansatz ist zumindest in der Öffentlichkeit wenig zu sehen.
Trivialer und gravierender zugleich als das Schreckgespenst Sozialismus ist heute der Exekutivstaat. Das mag kaum jemand sehen, weil der Staat die große Illusion ist, nach der jedermann auf Kosten von jederman leben kann. Die Alternative zum Weiter so ist die Strukturreform – das wirksame und konsequente Trennen der Ordnungen, der Gewalten, von meins und deins. Aus liberaler Sicht mutet das wie eine Jahrhundertaufgabe an.