Demokratie – reformbedürftig
Demokratie – reformbedürftig

Demokratie – reformbedürftig

Demokratie – reformbedürftig

“Der typische Demokrat ist immer bereit, die theoretischen Segnungen der Freiheit gegen etwas einzutauschen, was er gebrauchen kann.“ urteilte Henry Louis Mencken, der amerikanische Schriftsteller, Literatur- und Kulturkritiker, auf seine typisch lakonische Art in „Notes on Democracy“ 1930. Der Verteidiger von Freiheit und Bürgerrechten wies in demselben Absatz darauf hin, dass in einer Demokratie Parteien und Politiker den Bürgern Transferzahlungen gegen Selbst- und Mitbestimmung anbieten, besonders in Zeiten des Wohlstands.

Im Juni 2022 hat das EU-Parlament mehrheitlich beschlossen, ab 2035 den Verkauf von Neuwagen mit Verbrennungsmotor zu verbieten. Der Verhaltensökonom Jörg Michael Neubert wies in seiner perspektivenreichen Einschätzung des Beschlusses bei Novo Argumente darauf hin, dass es keine öffentliche Debatte unter Beteiligung von Bürgern vor diesem folgenreichen Beschluss gegeben habe. Während absehbar, und nach Zustimmung der nationalen Regierungen, nur noch Elektrowagen zugelassen werden stimmt der Bundeskanzler die Öffentlichkeit auf eine jahrelange Energieknappheit ein. Zugleich hat die Bundesregierung mehrere Transferprogramme aufgrund des Energiepreisanstiegs beschlossen.

Demokratie wird heute als die Essenz der politischen Ordnung präsentiert, als höchste Errungenschaft, als ein unantastbarer Begriff, bedeutsamer als Freiheit, die als ein Teil der Demokratie gesehen wird, bedeutsamer als Rechtsstaatlichkeit, die als ein Teil der Demokratie gesehen wird, viel bedeutsamer als die Frage: Wie viel Herrschaft ist notwendig? Demokratie soll die Herrschaft des Volkes sein. Demokratie beruht auf dem Ideal gleicher und freier Bürger. Die Bürger sollen an der Willensbildung der Gemeinschaft teilhaben.

Was sagen systematische, wissenschaftliche Untersuchungen zur Demokratie? Passt der Begriff der Volkssouveränität? Ich möchte auf drei strukturelle Probleme hinweisen:

  1. Stellvertretung und Eigeninteresse

In der Antike bedeutete Demokratie direkte Demokratie. Es gab keine Vertreter für den Souverän. Die politische Gemeinschaft war überschaubar. Die Polis war Siedlung und Stadt, Bürgergemeinde und politische Lebensform zugleich.

„Vertretung verwandelt sich in das Gegenteil ihrer selbst.“ urteilte der Soziologe Wolfgang Sofsky in seiner überaus lesenswerten Abhandlung Macht und Stellvertretung. In einem systemimmanenten Prozess fordern die Beauftragten von den Beauftragenden schließlich Gefolgschaft, ja Willfährigkeit ein. Die Wähler bevollmächtigen nicht länger einen Vertreter, sondern tauschen „fügsam ihre Stimmabgabe gegen die vage Hoffnung, anschließend tatsächlich vertreten zu werden.“ Die hierarchische Organisation beendet den Transformationsprozess und entscheidet die Machtfrage: der Apparat ist zum Souverän geworden. Die Wähler sind nur noch das Publikum im politischen Theater. Wer seine Souveränität abgibt wird beherrscht.

Diese Entwicklung trifft grundsätzlich sowohl auf private Vereine zu wie auf die Demokratie als öffentliche politische Ordnung. Da jeder Mensch seine eigenen Interessen verfolgt, sollte die Erkenntnis nicht überraschen. Das gilt umso mehr als es mit Kennth Arrow unmöglich ist, individuelle Präferenzen in eine kollektive Entscheidung zu überführen (Arrow-Theorem). Für Politiker und politische Systeme hat das die Public Choice Schule mit ihren Nobelpreisträgern bestätigt (eine beispielhafte Übersicht zu einem Vertreter, James Buchanan, ist in wenigen Absätzen hier bei FFG verfügbar).

  1. Der Mythos des rationalen Wählers

Den „Mythos des rationalen Wählers“ hat der Ökonom Bryan Caplan in seinem gleichnamigen Buch entlarvt und zugleich Ursachenforschung für schlechte Politik betrieben: “The Myth of the Rational Voter. Why Democracies Choose Bad Policies, Princeton 2007. Caplan zeigt, dass Menschen vielfach falsche Vorstellungen darüber haben, welche Mittel sich zum Erreichen ihrer Ziele eignen. Zugleich verhalten sich Menschen auf Märkten vernünftiger als in der Politik, wo sie sich von Gefühlen leiten lassen. Als Wähler neigen Menschen regelmäßig dazu, die Leistungsfähigkeit von Märkten, Freihandel und technologischem Wandel zu unterschätzen und die der Politik zu überschätzen. Ähnlich argumentiert Michael Huemer („Why people are irrational about politics“). Individuen werden durch Festhalten an politischen Glaubenssätzen psychologisch belohnt und erleiden keinen Nachteil durch das Festhalten an falschen politischen Überzeugungen. Der politische Glaube werde vor allem durch persönliche Interessen und Neigungen, die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, das Selbstbild und den Hang zu kohärentem Verhalten aufrechterhalten.

  1. Logik kollektiver Interessen

Das liegt an einem weiteren politischen Mechanismus: Politiker und Parteien subventionieren persönliche und auf Gruppen konzentrierte Vorteile, z.B. durch Protektionismus, und verteilen die Kosten auf die Allgemeinheit. Während Sonderinteressen gut organisiert sind und professionell arbeiten, ist die Abschaffung von Subventionen und Privilegien teuer und der Nutzen für den einzelnen Steuerzahler gering. Das Lobbying für ein öffentliches Gut kommt einer spezifischen Gruppe zugute, während alle Steuerzahler jeweils nur mit wenigen Euros belastet werden.

Mancur Olson ist für die „Logik des kollektiven Handelns“ bekannt geworden, die der interdisziplinäre arbeitende Wirtschaftswissenschaftler in „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ fortentwickelt hat: In latenten Gruppen wie den Bürgern einer Demokratie stimmen individuelle und kollektive Rationalität nicht überein. Je größer die Gruppe, desto geringer ist der Anreiz individuell beizutragen, da der Organisationserfolg unbeeinflusst bleibt. Kleine Gruppen sind hingegen besonders gut organisiert und erfolgreich bei der Realisierung ihrer Interessen – als Lobbygruppen auf Kosten anderer und der Allgemeinheit. Die Anreize machen den Unterschied.

Bürokratie der Interessenvertreter

Von hier aus lässt sich ein Bogen spannen zurück zur Stellvertretung. William Niskanen hat in „Bureaucracy and Representative Government“ ein Budget-Maximierungs-Modell entwickelt. Demnach strebt die Staatsbürokratie nach einer Ausweitung ihres Budgets, häufig auch ihrer Mitarbeiterzahl und ihrer Zuständigkeit. Hintergrund ist: Die Regierung gewährt das Budget, hingegen nicht die Wähler und schon gar nicht die Konsumenten. Je mehr Zuständigkeit die Bürokratie besitzt, desto größer ist das Budget über das sie verfügen kann. Da es keinen Wettbewerb und keine Grenzanbieter gibt, können auch keine Grenzanbieter ausscheiden, gibt es weder Anreize noch wirksame Beschränkungsmechanismen gegen die wachsenden Verwaltungsapparate der Stellvertreter.

Schlimmer geht’s immer

Die herkömmliche Auffassung von Politik besagt, dass Politiker sich nach den Interessen der Bürger richten. Das ist eine zentrale Voraussetzung für Volkssouveränität und repräsentative Demokratie. Parteien würden dementsprechend ihre Angebote den Wählerpräferenzen anpassen. Tatsächlich verläuft der Kausalzusammenhang anders herum: Die Wähler passen ihre politischen Präferenzen an die der maßgeblichen Politiker an. Da die Stimmabgabe eines jeden Wählers einflusslos und folgenlos ist, neigen Wähler dazu ostentativ, nach politischer Identität zu wählen und damit regelmäßig gegen ihre persönlichen Interessen (Randall G. Holcombe: Elite Influence on General Political Preferences).

Fazit und Ausblick

Die der Stellvertretung inhärente Tendenz, ihre Machtbefugnisse eigennützig auszuweiten, bedroht die liberale Ordnung unaufhörlich. „Ja, der Staat war einst für den Bürger da. Das hat sich geändert. Heute ist der Bürger für den Staat da!“ kritisierte Reinhard K. Sprenger bereits 2005 in seinem Buch „Der dressierte Bürger“.

Man muss unweigerlich an Churchill denken, der die Demokratie für die schlechteste Regierungsform außer allen anderen hielt. Nun, die Demokratie, das sind wir selbst. Und die Änderungen können nur von uns selbst kommen. Einige Aspekte einer Politik-Reform habe ich in meinem Liberalen Manifest thematisiert. Vielleicht kann als Ausgangspunkt einer dringend erforderlicher Reform eine liberale Erkenntnis dienen: die Unterscheidung zwischen der Frage der Demokratie „Wer soll herrschen?“ und der Frage der Liberalen „Wie kann Herrschaft vermindert werden?“