Der Staat schädigt die freie Gesellschaft
Der Staat schädigt die freie Gesellschaft

Der Staat schädigt die freie Gesellschaft

– ursprünglich erschienen auf: DieBucht.Rocks – 

Selten war ich politisch so enttäuscht wie nach dem Auftritt von Bundeskanzler Gerhard Schröder im Bundestag im März 2003. Der Genosse der Bosse hatte seine Arbeitsmarktreform vorgestellt, die heute als reformerischer Meilenstein unter dem Begriff Agenda 2010 in die Geschichte der Berliner Republik eingegangen ist und die letzte positive ordnungspolitische Anpassung seit eineinhalb Jahrzehnten darstellt.

Warum war ich enttäuscht? Offensichtlich, weil ich naiv war. Ich hatte viel mehr erwartet. Zu meiner Verteidigung kann ich indes anführen, dass der aufgestaute Reformdruck bereits damals geradezu gigantisch groß war, zumal aus liberaler Perspektive. Seit Ende der 1970er Jahre wurden – angesichts der feststehenden demographischen Entwicklung und den unübersehbaren Irrtümer einer sozialdemokratisch-bürokratischen Lenkung der Wirtschaft – von Politikern und Ökonomen Strukturreformen angemahnt. Die 1980er Jahre brachten einen begrenzten Schwenk zur angebotsorientierten Politik, aber schon wegen der familienpolitischen Subventionen keine Wende. Die massiven Fehler bei der Wiedervereinigung verschärften wenige Jahre später die Dringlichkeit substanzieller Strukturreformen weiter. Noch bis zur Finanzkrise 2007/08 waren die führenden Medien voll von Diskussionen über ordnungspolitische Reformen. Ich hatte ganze Stapel mit Artikeln aufgehoben.

Krise von Staat und Gesellschaft Anfang der 2000er in aller Munde

Mit einiger Verspätung fühle ich mich in meiner Enttäuschung, die sich aus einem tief wurzelnden Unbehagen speiste, indes bestätigt. Zur Zeit der Hartz IV Reformen hat der Staatsrechtler Karl-Heinz Ladeur eine fundamentale Kritik des Staates sowie der Sichtweise nicht zuletzt der etablierten Rechtswissenschaften auf den Staat und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft verfasst. Erst eineinhalb Jahrzehnte später habe ich diese staatswissenschaftliche Kritik nun gelesen.

Ladeurs Monographie passt auf ganz eigene Art und Weise zum Verständnis des Staates als eine eigene Entität mit spezifischen Funktionsmechanismen wie sie beispielsweise Ludwig von Mises in „Bürokratie“ und Anthony de Jasay in „Der Staat“ entwickelt haben. Leider ist die Monographie „Der Staat gegen die Gesellschaft“ nicht ganz einfach zu lesen; das passt zu den inhaltlichen Passagen, die gewichtige Kontrapunkte zu Habermas’ sozialistischer Demokratietheorie setzen.

Ladeur macht besonders eindringlich deutlich, was eine liberale Gesellschaft mit einer tatsächlich liberalen Rechtsordnung eigentlich ausmacht und welche Rolle der Staat in einer solchen Ordnung spielt. Um es vorwegzunehmen, unsere heutige Gesellschaft ist in dieser Perspektive strukturell illiberal und deshalb zur Stagnation, wenn nicht zum (relativen) Niedergang verdammt.

Die liberale Ordnung ist ein non-zentrales Netzwerk zur Problemlösung

Eine liberale Gesellschaft zeichnet sich durch die Fähigkeit zur ständigen Erneuerung und Anpassung aus. Das geschieht langsam, nicht durch pseudo-reformerischen Aktivismus zentraler Akteure, sondern vielmehr durch Entdecken, Ausprobieren und Übernehmen neuer Lösungsmechanismen, die die Individuen in Kooperation mit einander finden. Diese Entdeckungs- und Problemlösungsfähigkeit ist der eigentliche Grund für den Aufstieg des Westens nach der Aufklärung. Diese Entdeckungs- und Problemlösungsfähigkeit entspricht dem Wesen des Menschen, der eigenständig und in Kooperation Herausforderungen erkennt, sich ihnen stellt und sie bewältigt – all das geschieht unter Selbstbeobachtung und wird begleitet durch eine persönliche Weiterentwicklung.

Privatrecht als Erfolgsschlüssel

Voraussetzung ist eine Rechtsordnung, die aus der Kooperation der Menschen erwächst und in FOrm einer Privatrechtsgesellschaft (Franz Böhm) besteht. Öffentliches Recht und Zivilgesellschaft sind demgegenüber Fremdkörper und mit dem Privatrecht oder bürgerlichen Recht letztlich unvereinbar. Das liegt daran, dass der Staat in einer liberalen Ordnung die beschränkte, aber bedeutende Aufgabe hat, die privatgesellschaftlichen Netzwerke des Rechts und des Wissens abzusichern. Idealerweise kann der Staat die Rahmenordnung für ein möglichst friktionsfreies Problemlösen und Wissensgenerieren der Menschen absichern. Keinesfalls löst der Staat selbst Probleme. Das ist Aufgabe der Menschen, die als Bürger in der res publica mit einander verbunden sind.

Die Realität sieht nur leider anders aus, weshalb der Staat – eigene Ziele verfolgend – das Privatrecht konterkariert.

Diese verschüttete Erkenntnis ist offenkundig weit entfernt von dem Anspruchsdenken, das sich heute auf den Staat als zuständige Instanz für die Lösung aller Probleme richtet. Längst ist Frederic Bastiats Warnung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts vor dem Staat als großer Fiktion Realität geworden.

Kaputte Institutionen als Ursache der Krise des Westens

Karl-Heinz Ladeur liefert implizit eine tiefschürfende Begründung, warum die seit einigen Jahren behauptete „säkulare Stagnation“, das immer noch propagierte Erlernen von „Schlüsselqualifikationen“ und die fortbestehenden „Reformblockaden“ nur Phrasen sind, ferner warum die dahinter liegenden Konzepte ungeeignet sind, drängende Probleme zu lösen, geschweige denn, sie nur zu erkennen. Kein einziger heute verfolgter Ansatz stellt auf die beeindruckende Problemlösungsfähigkeit einer freien Gesellschaft ab.

Folglich macht sich nach der Lektüre Pessimismus breit. Die Kommentatoren, die vom Abstieg und Niedergang des Westens berichten, scheinen Recht zu haben, wenn ihnen auch häufig die Begründung fehlt: Eine offene, freie Gesellschaft erneuert sich ständig selbst – genauer: nur eine offene, freie Gesellschaft erneuert sich ständig selbst.

Offenkundig tut das Deutschland nicht, ist das im EU-Europa nicht der Fall, im Gegenteil. Bürokratische Organisation tritt immer stärker an die Stelle einer flexiblen Ordnung, in der die Bürger das Entdeckungsverfahren gestalten. Die zentralistische Expertokratie gehört allerdings zum Typus des sowjetischen Modells der Apparatschicks.

Das Kernproblem noch einmal anders betrachtet: Heute werden vermeintlich Probleme direkt gelöst, statt eine erfolgreiche Problemlösungsinfrastruktur aufzubauen, zu erhalten und weiterzuentwickeln. In dieser Perspektive ist unsere Rechtsordnung kaputt. Unsere Probleme sind institutioneller Natur. Die Reformdiskussionen beschränken sich indes weitgehend auf ein manageriales Herumfummeln an Symptomen. Zugleich wird der mündige Bürger konsequent durch den betreuungswürdigen Verbraucher ersetzt. Mit diesen Verfehlungen graben wir uns langfristig das Wasser ab.

Offenkundig hat sich seit den Hartz IV Reformen die Lage drastisch verschärft. Symptomatisch sind Klimapolitik und Genderismus, die zwei vorläufige Höhepunkte einer völlig pervertierten liberalen Ordnung sind. Euro-Stabilisierung und Migrationspolitik gehören ebenfalls in diese Kategorie.

Der Staat gegen die Gesellschaft

Besonders dramatisch erscheint nach der Lektüre von Ladeur in welchem Ausmaß der Staat unser Sozialkapital zerstört. Und mit Staat ist nicht nur die selbst- und auf Interessengruppen bezogene Organisation gemeint, die Sonderrechte genießt, sondern auch die Vielzahl von Bürgern, die ihr Heil im Staat sucht. Der Staat reformiert längst die Gesellschaft, statt sich an ihr zu orientieren. Der Staat gibt die Lebensweise vor, nach der die Bürger leben sollen. Das ist grundfalsch. In einer liberalen Ordnung bildet die Gesellschaft einen schlanken, fitten Staat. Der Staat leistet für die Bürger Dienste und hält sich sonst zurück. Heute sucht sich der Staat eine neue Gesellschaft. Schlimmer noch, im staatlichen Bildungssystem wird eine neue Gesellschaft formiert.

Die Folge: Der Staat handelt gegen die (freie) Gesellschaft. Der Staat blockiert das Lernen. Die Sphäre der staatsfreien, privaten Beziehungsnetzwerke, die Konventionen hervorbringen und anpassen, die dem anpassungsfähigen Menschen entsprechen und (nur) mit einer Privatrechtsordnung allgemeiner Rechtsregeln zur Beilegung von Konflikten kompatibel sind, funktioniert schon lange nicht mehr.

Das Risiko einer Verselbständigung des Staates war lange nicht mehr so groß wie heute, zumal diese Verselbständigung längst Realität ist. Zukunftsoffenheit, flexibler Umgang mit Unsicherheit, Selbstorganisation und das Erfinden des Erfindens sind kontinuierlich abgeschafft worden. Stattdessen haben wir Inklusion, positive Rechte, Ansprüche, die parasitäre Ausbeutung der Produktiven und eine unmittelbare Beziehung zwischen Staat und Individuum bekommen.

Rückbesinnung und Umkehr: Staat schrumpfen, Entdeckungspotenzial freisetzen

Eine mittelbare Beziehung von Staat und Individuum ist der Ausweg aus unserer Misere. Wir brauchen wieder eine Kultur des Entdeckens, um Wissen zu generieren. Dafür reichen allerdings manageriale Reformen nicht. Vielmehr ist ein grundlegender Umbau der Institutionen erforderlich, eine Umkehr aus der Sackgasse, ein Ende der Reformillusionen, ein weitreichender Rückbau des Staates auf der Grundlage einer neuen, alten Sicht auf den Staat und seine Rolle. Der Minimalstaat ist das Ziel. Je mehr Staat, desto weniger Wohlfahrt. Mit Ludwig Erhard vereinfacht: Jede Ausgabe des Staates beruht auf einem Verzicht des Volkes.

Für staatliche Tätigkeiten gilt es folglich strenge Maßstäbe zu entwickeln und vor allem anzuwenden. Dazu gehören systematische Kosten-Nutzen-Beurteilungen und regelmäßige Evaluationen, die Konsequenzen haben müssen. Ein gravierendes Problem besteht darin, dass das politische System längst nicht mehr in der Lage ist, ein realistisches Bild seiner Funktionsweise einerseits und der Entwicklungsbedingungen der Gesellschaft andererseits zu entwerfen. Dieses Urteil Ladeurs stammt von 2005. Es wirkt wie eine substanzielle Vorwegnahme der Elitenkritik einschließlich des Vorwurfs der Lügenpresse.

Bemerkenswert erscheint mir, dass die Grundideen des klassischen Liberalismus zeitlos sind und ideal zur heutigen Welt passen. Eine Gesellschaft der Netzwerke ermöglicht noch mehr Wissensbildung als das früher der Fall war. Erst wenn die Menschen wieder befähigt sind, an der Entwicklung der Regelstruktur mitzuwirken statt am öffentlichen Diskurs teilzuhaben, leben wir wieder in einer freien und wahrlich sozialen Gesellschaft. Das wäre zugleich der Zeitpunkt, an dem der zuvor blockierte Staat wieder eine Daseinsberechtigung hat und zu Recht geachtet wird.

Literatur: Karl-Heinz Ladeur: Der Staat gegen die Gesellschaft, Mohr Siebeck Tübingen 2006, 447 S.