Bürger als Quell schlechter Politik
Bürger als Quell schlechter Politik

Bürger als Quell schlechter Politik

Bürger als Quell schlechter Politik

Politik ist das Problem, nicht die Lösung. So lautet eine insbesondere unter Liberalen verbreitete Erkenntnis, die gleichermaßen breit und tief abgesichert ist. Als Eliten-Kritik hat sich ein Aspekt dieser Einsicht in den letzten Jahren mit einer gewissen Vehemenz Bahn gebrochen und bleibt in der Substanz folgenlos. Dazu passt die punktuelle Beobachtung der Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Wer auf das „ehrliche Wahlergebnis“ (Welt) blickt, d.h. die Nichtwähler im Ergebnis berücksichtigt, der sieht die Gruppe der Nichtwähler mit rund 44% als unangefochten stärkste Kraft. Die CDU folgt mit 20%, außerdem wären noch SPD mit 15% und Grüne mit 10% im Landtag vertreten. Das war es. Liegt es am schlechten, gleichförmigen Politikangebot? Liegt es an einem Wahltheater, das alle vier Jahre stattfindet und in einer Stimm-Abgabe besteht, die Loyalität signalisiert und Politiker gegen das wichtigste Feedback isoliert, die Kündigung wegen schlechter Arbeit? Alle Fragen lassen sich gut begründet mit ja beantworten. Zugleich wird nachfolgend die Aufmerksamkeit auf eine andere Perspektive gelenkt: Was wäre wenn nicht die Politik das Problem ist, sondern der Bürger?

Infratest dimap Umfragen geben, deren stark beschränkte Aussagekraft berücksichtigt, einen Hinweis auf die begrenzte Rationalität des Bürgers bei der Wahl – Bryan Caplan analysierte den Mythos des rationale Wählers umfassend: The Myth oft he Rational Voter (Princeton, Überblick). Die Landespolitik kann die einer Umfrage zufolge wichtigsten Themen für die Wahlentscheidung nicht beeinflussen: Preissteigerung, Klima, Energieversorgung, Krieg gegen die Ukraine und wird immer das Problem beim fünften bleiben: Bildung. Zugleich scheinen die Wähler ein politisch gleichermaßen zufriedenes wie unzufriedenes Leben zu führen, während es ihnen weit überwiegend wirtschaftlich gut geht.

Leiden ist einfacher als ändern

Liberale sollten sich verabschieden von der Wunschvorstellung, es gebe eine ausreichende Anzahl Menschen, die konsequente Marktwirtschaft und politische Zurückhaltung wünschen. Was wäre wenn die Bürger nicht primär Freiheit, Selbstverantwortung und die Resultate ihres sozioökonomischen Verhalten wollen, obwohl sie selbst auf Märkten, mit Unternehmen und Mitbürgern Geschäfte machen. Was wäre wenn sie sich Umverteilung wünschen, von echter Marktwirtschaft keine Ahnung haben und diese auch nur staatlich korrigiert akzeptieren? Was wäre wenn sie seit je her intuitiv Etatismus befürworten und Marktwirtschaft emotional feindlich betrachten?

Dann wären die herrschenden Eliten nicht das Problem und der wohlmeinende Staat wäre seit langem die Lösung. Die unsichtbare Hand verunsichert, die wohlmeinende, wohl verteilende politische Hand von Vater Staat ist die Lösung – heute nicht mehr als Vater Staat, sondern, ja wie eigentlich: Staat (m/w/d)?

Dieses Staatsverständnis ist zwar reines Wunschdenken, der Staat die große Fiktion nach der jedermann auf jedermanns Kosten leben kann (Frédéric Bastiat), aber für die Masse der Bevölkerung ist der Mythos die gelebte Realität. Der Wunsch, die eigene Partei möge an die Fleischtöpfe kommen, die eigene berufliche oder gesellschaftliche Gruppe möge als Pendler, Renter, Student, Arbeitsloser, Harzer, Mieter, Mutter, Vater, Umweltbewusster, Reisender, Telefonierender, Häuslebauer etc. pp. bessergestellt werden, das ist eine verbreitete, vermeintlich demokratische Vorstellung. Wenn sich kein Widerstand gegen wirtschaftspolitischen Stuss wie Klimageld und Mietpreisbremse erhebt, dann bleibt es bei dem ewigen und stetig intensivierten Rumfummeln in den Hosentaschen der Bürger, beim Griff ins Portemonnaie: rausnehmen, reinstecken, einstecken, wegstecken, von einem Portemonnaie in ein anderes. Inflation tritt via Staatsverschuldung fast zwangsläufig auf.

Die Deutschen wollen regiert werden. Sie wollen gut regiert werden. Sie wollen sich ein- und unterordnen und ihr Leben geordnet bekommen. Sie wollen nicht wirklich Freiheit und Selbstverantwortung. Wollen Sie Freiheit im Staat? Freiheit gegen den Staat auf keinen Fall. Politische Selbstverantwortung ist nicht das Ziel, politische Besserwisserei in den sozialen Medien umfänglich dokumentiert. Die Bürger schimpfen und haben sich eingerichtet. Die Masse der Deutschen respektiert eine kraftvolle lenkende Politik, die die häusliche Behaglichkeit unangetastet lässt. Der zunehmende Freiheitsverlust (Allensbach) wird hingenommen. Im Herbst 2020 sah nur noch eine Minderheit von 40 Prozent den Staat als „mit seinen Aufgaben und Problemen überfordert an“. Außerdem werden „Beamte .. nach wie vor insbesondere als pflichtbewusst, verantwortungsbewusst und zuverlässig wahrgenommen.“ Je höher der Bildungsabschluss desto größer die Zustimmung. (dbb) Schon vor zehn Jahren war das Vertrauen der Deutschen in staatliche Dienstleistungen überdurchschnittlich hoch. (Gallup 2012) Zugleich existiert eine negative Bilanz der Corona-Zeit und der dadurch veränderten Gesellschaft (Allensbach 01/2022). Das war unbehaglich.

Historische Analogie

Selbstverständlich gibt es nicht die Bevölkerung. Vielmehr lassen sich verschiedene Gruppierungen bilden. Sebastian Haffner hat in „Germany: Jekyll & Hyde. 1939 – Deutschland von innen betrachtet“ ein hellsichtiges sozialpsychologisches Portrait der damaligen deutschen Bevölkerung vorgelegt. Bei allen zeithistorischen Eigenheiten lassen sich viele zeitlose Einsichten gewinnen. Dazu an anderer Stelle bald einmal mehr.

Haffners Analysemodell taugt auch für andere Zeiten und Gesellschaften. Der noch junge Publizist unterscheidet vier Gruppen: die herrschende „Elite“ mit all ihren Funktions- und Zuträgern, die loyale Bevölkerung, die nichtloyale Bevölkerung und die Opposition. Hinzu kommen noch die Emigranten.

Wie lässt sich diese Einteilung nutzen, um die These zu untermauern, die Bürger, nicht die Politiker, sind das Problem? In vereinfachter Form gibt es nicht nur die Elite da oben, die Genossen und die Bosse, sondern einen umfangreichen Apparat, der das politische Führungspersonal stützt, berät, zuarbeitet und ein Weiter so befürworten dürfte. Diese Bürger sind Mitarbeiter der Politiker, arbeiten im öffentlichen Fernsehen und Rundfunk, bei Nichtregierungsorganisationen, sind als Beamte und Angestellte in der umfangreichen und wieder wachsenden Staatsbürokratie tätig, leben von Transfers. Grundlegende Änderungen, mehr Markt weniger Staat, eine liberale Marktwirtschaft, weniger EU-Bürokratie, mehr Subsidiarität darf man hier nur als marginale Ausnahme erwarten.

Die loyale Bevölkerung toleriert und stützt die herrschende Gruppierung. Sie sieht Wählen als Bürgerpflicht an, fürchtet den Klimawandel und kann sich die Energiewende leisten. In einer Mischung aus politischer Korrektheit, Naivität, Klugheit und Dummheit hält sie den Staat für die notwendige Instanz für soziale Gerechtigkeit, befürwortet eine sozial korrigierte Wirtschaft unter einem Primat der Politik, sieht den Staat als Sicherheitsgaranten in allen Lebenslagen: Bildung, Gesundheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Wohnen, Ernährung. Ihr Antikapitalismus hat eine lange Tradition und beruht auf fundamentaler Unkenntnis und mangelnder, auch emotional mangelnder Fähigkeit zur Einsicht. Die loyale Bevölkerung kann kaum als Verteidiger einer offenen Gesellschaft angesehen werden. Das fängt bei der Meinungsfreiheit an. Keine Diskussion über den Klimawandel, nur noch Maßnahmen.

Die nichtloyale Bevölkerung wächst Meinungsumfragen zufolge. Sie sieht die Freiheit, insbesondere die Meinungs- und Denkfreiheit bedroht, ist mit den politischen Entscheidungen zur Finanzkrise, zur sogenannten Energiewende, zur Flüchtlingskrise, zum Gendern, zur Coronakrise gewachsen und gefestigt. Still, wütend, immer wieder verzweifelt, äußert sie sich wenig wirksam, wird als rechts diffamiert und zieht sich primär ins Private und die sozialen Medien zurück. Die nichtloyale Bevölkerung gehört zur Schweigespirale und macht vermutlich nur einen kleinen Teil aus (10 bis 15%), trotz einer wachsenden Zahl Unzufriedener. Hier sind die konsequenten Liberalen zuhause mit ihrem Streben nach institutionellen Veränderungen und einer tatsächlich offenen, per se pluralistischen Gesellschaft. Auch klassische Konservative lassen sich hier trotz eines anderen Staatsverständnisses verorten.

Die Opposition würde in Anlehnung an Haffners Modell „das System“ ablehnen, wählt aber mitunter vermeintlich oppositionelle Parteien. Unter diesem Rubrum lassen sich diverse politische und unpolitische, kluge und verschwörerische, verkopfte und stumpfe, prinzipielle und radikalisierte Gegner unterschiedlichen Ausmaßes subsumieren.

Emigranten haben Deutschland verlassen, kehren mitunter enttäuscht zurück oder sind froh im Ausland ein besseres Leben gefunden zu haben und sei es als politisch distanzierter Beobachter.

Perspektive

Die Masse der Bürger, mindestens 75% ad hoc geschätzt, wollen mehr von demselben. Der Marsch durch die Institutionen hat gewirkt. Mit Haffner wirkt Propaganda – die Bilder bleiben, trotz aller Lügen. Antikapitalismus hat Tradition.* Die mystische Vorstellung vom Reich ist in Deutschland dem guten Staat gewichen, der allein Wohlfahrt erzeugt, mit Politikern und Beamten, die ihr Leben dem Gemeinwohl widmen. Die Obrigkeitstümmelei ist geblieben.

In dieser Perspektive bekommen die Bürger die Politiker und die Politik, die sie sich wünschen. Ob das so ist, wäre genauer zu untersuchen. Wahrscheinlich wären Liberale dann in der parlamentarischen Opposition am besten aufgehoben, als Mahner, auf ihrem dauerhaft angestammten Platz wie Sebastian Haffner konstatierte.

*Drei Klassiker zum Antikapitalismus:

Totgedacht von Roland Baader thematisiert, warum Intellektuelle unsere Welt zerstören.

Marktfeindschaft warum?, herausgegeben von Ernest van den Haag, beschäftigt sich mit den emotionalen Ursprüngen von Marktfeindschaft.

Die Wurzeln des Antikapitalismus von Ludwig von Mises systematisiert die vielfältig begründete Ablehnung auch von Filmschaffenden und Literaten.