Schwächen des Liberalismus
Schwächen des Liberalismus

Schwächen des Liberalismus

Schwächen des Liberalismus

Führende Neoliberale der 1930er bis 50er Jahre kritisierten den klassischen Liberalismus massiv. Sie warfen den als Paläoliberalen diskreditierten Mitstreitern einen Deismus vor, einen gleichsam göttlichen Glauben an die natürliche Funktionsfähigkeit einer freiheitlichen Ordnung. Diese Kritik hat eine fortdauernde Wirkung entfaltet. Heute wird Liberalismus leichthin mit Nichts tun, laissez-faire, und Nachtwächterstaat gleichgesetzt. Die Vorwürfe formulierte der namhafte neoliberale Gelehrte Alexander Rüstow (1885-1963), Erfinder des Begriffs Neoliberalismus (1938), Universalgelehrter und Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft in seinem Buch Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, das 1945 in Istanbul erschien, wo er im Exil lehrte. Zugleich weist die Kritik an sich auf ein weiteres gravierendes Problem der Liberalen hin, vielleicht sogar mehrere.

Vermeintlicher Deismus

Zunächst zum Vorwurf: Die Kritik hat drei Facetten, die letztlich von dem Zweifel zusammengehalten werden, dass eine wirklich freie Kooperation von Individuen gesellschaftlich gute Ergebnisse zeitigen könne und alternativen Systeme, insbesondere staatliche Lenkung, überlegen seien: Erstens könne eine schrankenlose Ordnung mangels Schutz durch Gesetzte nicht bestehen, Machtkonzentration und Ausbeutung der Beherrschten sei die Folge. Zweitens sei die natürliche Ordnung selbst zu bezweifeln und lediglich ein ex ante behauptetes bestes Kooperationsergebnis menschlichen Handelns. Drittens sei die natürliche Ordnung eine Chimäre, da die angenommene Evolution sozialdarwinistische Züge trage (siehe erstens) und somit unsozial sei oder/und staatliche Planung zumindest punktuell eine bessere gesellschaftliche Entwicklung ermögliche.

Kurz gefasst richtet sich die Kritik gegen die „unsichtbare Hand“ und setzt dem gleichsam Stirn und Faust der besserwissenden Experten entgegen.

Strohmänner & Mythos der Machbarkeit

Es ist schon ein wenig amüsant, dass ein Liberaler der illiberalen Anmaßung von Wissen in die Falle geht, der antiken Vorstellung einer klugen und guten Herrschaft wohlmeinender Aristokraten und Besserwisser anhängt. Der Altphilologe Rüstow konnte die Arbeiten Hayeks ab 1945 (The Use of Knowledge in Society) über die Entstehung von Wissen nicht vorwegnehmen, irrte indes unter dem Eindruck seiner Zeit gleich mehrfach.

Die Vorwürfe richteten sich gegen eine Welt, die nicht existierte und noch heute gegen Strohmänner, die erst die Kritiker selbst geschaffen haben.

Zu den Thesen Rüstows:

  1. Der Vorwurf der Gesetzesfreiheit geht ins Leere. Schon Adam Smith betonte: „Durch Recht und Staat blühen all die verschiedenen Tätigkeiten“. Die Herrschaft des Rechts (Rule of law) bildet gerade für klassische Liberale von Adam Smith über Ludwig von Mises bis Friedrich August von Hayek die Voraussetzung für ein Ordnung der Freiheit. Erst eine Verfassung der Freiheit vermag das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts abzulösen. Eben dieser intellektuelle Freiheitskampf gegen die Herrscher in wechselnden Gewändern, ob als Fürsten, rote und braune Diktatoren, ob als wohlfahrtsstaatliche Volksvertreter und Bürokraten, die von den Neoliberalen selbst vehement kritisiert wurden, währt seit der Aufklärung.
  2. Klassische Liberale begreifen Kooperation als vorläufiges gelungenes Ergebnis sozialen Handelns, welches ausdrücklich Irrtum und Versagen als Möglichkeit einschließt. Nichtwissen wird im klassischen Liberalismus zur Tugend. Versuch – Irrtum – verbesserter erneuter Versuch im Wettbewerb als Entdeckungsverfahren zum Prinzip. Die Gesellschaft insgesamt ist somit das Ergebnis von Human action, nicht aber Human design. Niemand kann die dynamische Komplexität der nicht überschaubaren weltweiten Netzwerke planen. Dezentral lassen sich Irrtümer viel einfacher und schneller korrigieren als in Hierarchien.
  3. Staatliche Planung und Eingriffe bergen für klassische Liberale zu aller erst das Problem des „Doing Bad by Doing Good“. Das gerne als „sozial“ deklarierte Agieren geht stets mit Kosten einher. Die aktuellen Beispiele der Geldpolitik des „Whatever it takes“ und der Energiepolitik illustrieren die asoziale Seite öffentlicher Planung.

Liberale Unzulänglichkeiten

Zugleich haben Alexander Rüstow und auch Wilhelm Röpke zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Ordnung der Freiheit, die Marktwirtschaft eingeschlossen, soziologische Rahmenbedingungen erfordert, die sie stützten. Für das Ausmaß dieser geistigen und materiellen Grundlage gibt es weder ein absolutes Maß, Liberale werden darüber unter einander streiten, noch wird die bloße Forderung zur Realität. Damit sind wir bei den Schwächen des Liberalismus:

  1. Der Liberalismus setzt auf Vernunft und kaum auf Emotionen. Die Masse der Menschen folgt umgekehrten Prioritäten. Das gilt selbst und gerade für Wahlen.
  2. Der Liberalismus plädiert regelmäßig dafür, nicht zu intervenieren, Bereinigungskrisen zuzulassen, während die Menschen ad hoc Handeln erwarten und Maßnahmen vorgeschlagen werden, die zuweilen sogar kurzfristig positiv wirken. Liberale sind in einer strategisch schlechten Position.
  3. Liberale denken vergleichsweise kompliziert, statt in einfachen, wenn auch völlig unzulänglichen Wunschvorstellungen simpler Ursache A – Wirkung B – Zusammenhänge. Liberale betrachten Rückkopplungsgeflechte, reagieren nicht intuitiv ad hoc, sondern im Sinne von Kahneman mit System 2, also gründlich nachdenkend. Sie wissen um das Problem der magischen Zahl 7 von A. Miller, des begrenzten Denkens.
  4. Der Liberalismus war einerseits erfolgreich, da viele seiner Forderungen Realität geworden sind, andererseits gibt es den Liberalismus schon lange nicht mehr als nennenswerte gesellschaftspolitische Einflussgröße, zumindest nicht in Deutschland. Die Kritik am Neoliberalismus ist über weiter Strecken Papageiengeschwätz.
  5. Der Liberalismus ist möglicherweise nicht in der Lage, einen starken und zurückgenommenen Staat, wie ihn Rüstow 1932 forderte, zu befördern. Der Minimalstaat bleibt ein utopisches Vorbild, die Logik der Bürokratie und organisierter Interessen ist viel mächtiger. Damit fehlen dem Staat Selbstschutzkräfte, tragisch im Fall der Weimarer Republik.
  6. In einem neuerlichen etatistischen Zeitalter wird deutlich wie sehr illiberale Indoktrination und Bildung dominieren und dem schwerlich beizukommen ist. In den USA haben Verrückte (woke) weite Teile der Universitäten zerstört. Ökonomische Kenntnisse werden an deutschen Schulen nicht ansatzweise ausreichendvermittelt, mit Absicht, dafür inzwischen zu oft Klimaideologie statt Umweltschutz.
  7. Macht lässt sich nicht delegieren. Die Wahl von Stellvertretern führt dazu, dass die Gewählten regelmäßig ihre Ideologie, ihr System errichten, gegen die Wähler, ob in Vereinen oder Gesellschaften (Macht und Stellvertretung).
  8. Liberale neigen zur Abgrenzung, zur Prinzipientreue, zum Streit über individuelle Positionen. Das schwächt den Liberalismus, während Linke, Etatisten zur Diskussion und in die Politik drängen, um zu verändern.
  9. Möglicherweise, das ist eine Hypothese, untergräbt die derzeitige Entwicklung von Bildung und Tech-Konzernen eine offene Gesellschaft mit Belohnungssystemen, die dazu führen, dass Menschen so etwas wie Social Credits wollen und damit den Weg in den autoritären Überwachungsstaat bereiten. Bürger-Manipulation ist längst Regierungsprogramm (Nudging).
  10. Die natürliche Neigung der Menschen mit der Masse zu schwimmen, nicht abzuweichen, hemmt eigenständiges Denken und Handeln. Das gilt auch angesichts der Sozialisierung in der „Horde“, der Familie, die den einfachen sichtbaren Mechanismen von Handeln und Hierarchien folgt statt der Magie der Großgesellschaft.

Licht am Ende des Tunnels

Gibt es Hoffnung? Ja, die unsichtbaren Hände sind am Werk. Dezentrale Kulturarbeit ist ein Weg. Junge Leute tun das etwa beim Michael Gartenschläger Institut recht erfolgreich. Die Zeit spielt, vernünftig betrachtet, für die Liberalen. Nie waren dezentrale Lösungen so zeitgemäß und so einfach möglich – small is beautifull. Die Vernetzung verläuft weltweit kulturell, gesellschaftlich, wirtschaftlich längst und zunehmend über politische Grenzen hinweg. Moderne Arbeitsweisen setzen auf Vernetzung, Agilität, Scrum, statt Wasserfallmodell, Top Down Planung, Realisation und Kontrolle. Gehirn, Entstehung von Wissen, Gesellschaften ähneln einer spontanen Ordnung.

Die Liberalen können als kritische Opposition eine sehr wichtige Rolle spielen. Und wenn sie weiter klug urteilen und Folgen schlechter Politik treffend antizipieren, wird man sich bei deren Eintreten immer an die Mahner erinnern.

Einfacher und Mut machend mit Ralf Dahrendorf: „Zu Freiheit gehören die Krisen der Freiheit.“