Wirtschaftsgeschichtliche Forschung bestätig liberale Paradigmen – Kapitalismus ist Massenwohlstand – Unternehmer als Innovatoren – regionale Wirtschaftsentwicklung als Ursprung – Freiheit und Wohlfahrt gehören zusammen – Staat trug zur kapitalistischen Transformation bei
Wirtschaftsgeschichte ist eine spannende Disziplin. Das liegt u.a. an der Perspektivenvielfalt, an der Verwendung von Methoden und Theorien gestützter Arbeitsweise, von qualitativen und quantitativen Ansätzen und an der expliziten Modellbildung. Zudem macht Wirtschaftsgeschichte nicht an politischen Grenzen halt und sie verbindet häufig Akteure mit Strukturen und Prozessen. Wirtschaftsgeschichte steht insofern auf festem Boden als sie durchweg ex post Betrachtungen anstellt. Wirtschaftsgeschichte ist eine zeitlose und moderne Disziplin.
Transformation, verstanden als tiefgreifender Wandel, ist eigentlich ein zukunftsoffenes Phänomen, es sei denn es handelt sich um Transformationsgeschichte. Diese ist Gegenstand eines facettenreichen Sammelbands, der als Festschrift zum 65. Geburtstag des Bochumer Hochschullehrers für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte Dieter Ziegler erschienen ist.Ingo Köhler, HU Berlin, und Eva-Maria Roelevink, Uni Mainz, haben den Band herausgegeben mit dem Titel: Transformative Moderne: Struktur, Prozess und Handeln in der Wirtschaft.
Die enthaltenden 24 Beiträge verbindet das boomende Thema Transformationsforschung. Die Herausgeber verstehen darunter „komplexe Veränderungsprozesse und .. die Wirkung eruptiver Brüche und Krisen“ seit dem Übergang zur industriellen Moderne in wirtschaftlicher und darüber hinaus sozialer und kultureller Einbettung. (S. 14) Fünf Themenblöcke geben dem Sammelband Struktur. Am Anfang stehen Perspektiven auf die Wirtschaftsgeschichte. Es folgen Märkte mit der Transformation der Wirtschaftsstruktur, die Montanindustrie im Ruhrgebiet als glokale Transformation und das Thema Management hinsichtlich der Unternehmenstransformation sowie die Transformation der Wirtschaftssteuerung.
An dieser Stelle möchte ich lediglich zwei Beiträge aufgreifen, die sich mit der Transformation der Wirtschaftsstruktur befassen. In liberaler Perspektive ist es die kapitalistische Wirtschaftsweise gewesen, die die Menschen zu mehr Wohlstand kommen und viel mehr überleben ließ. Ludwig von Mises hat die revolutionäre Wirkung des Kapitalismus für die Wohlstandshebung der Massen stets betont: „Es war die Massenproduktion für die Bedürfnisse der Massen. Und das ist das Grundprinzip des Kapitalismus …“ (Vom Wert der besseren Ideen, 27) Demgegenüber war der Feudalismus durch Luxusgüterproduktion für die Herrschenden geprägt.
Wie lässt sich die kapitalistische Transformation beschreiben und erklären?
Ulrich Pfister, Münster, untersucht „Strukturbrüche im Übergang zum modernen Wirtschaftswachstum: Deutschland vom 17. zum 19. Jahrhundert“ (S. 45-63). Wesentliche Erkenntnisse lauten:
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- In Großbritannien habe bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine allmähliche, kontinuierliche Beschleunigung des Wirtschaftswachstums eingesetzt.
Eine spezifische Faktorausstattung, agrartechnischer Fortschritt, institutioneller Wandel und außenwirtschaftliche Öffnung hätten sich miteinander verbunden.
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- In Deutschland habe es einen auch zeitlich vergleichbaren Prozess gegeben, der allerdings ausgesprochen diskontinuierlich erfolgt sei und durch exogene, politisch-institutionelle Schocks gekennzeichnet gewesen sei: beschleunigte Staatsbildung nach dem Dreißigjährigen Krieg (nach 1648), Transformation des deutschen Staatensystems nach den napoleonischen Kriegen (1792-1815) und Nationalstaatsgründung (1871).
- Eine langfristige Betrachtung der Reallohnentwicklung zeige im Hinblick auf die Bevölkerungsentwicklung folgendes Muster: bis 1800 negativer Zusammenhang, d.h. Bevölkerung wächst – Reallohn sinkt und vice versa (malthusianische Wirtschaft). Zugleich war die Bevölkerung im 18. Jahrhundert und um das Jahr 1800 bei gleichem Reallohnniveau deutlich größer als 200 Jahre zuvor.
- Im frühen 19. Jahrhundert sei ein Strukturbruch erfolgt – die negative Beziehung zwischen materieller Wohlfahrt und Bevölkerung sei vollkommen verschwunden. Die anschließende Verdopplung der Bevölkerung führte nicht zu einem Verfall des Reallohns. Der Fall des Grenzprodukt des Faktors Arbeit sei durch technischen Fortschritt kompensiert worden. Versorgungskrisen beeinträchtigten die Bevölkerungszahl seitdem nicht mehr (postmalthusianische Wirtschaft).
- Als Ursachen führt Ulrich Pfister an:
- Wachstum des Außenhandels, stärker als das der Bevölkerung, bedingt durch regionale Exportgewerbe und Protoindustrien mit entsprechender Arbeitskräftenachfrage,
- verursacht durch veränderte Handelstechniken und Unternehmensorganisation (entstehende Geschäftskorrespondenz und bargeldloser Zahlungsverkehr) bei verbesserter Kommunikations- und Infrastruktur (zweite Kommerzielle Revolution nach der ersten im Hochmittelalter) und
- Integration von Märkten für nicht-landwirtschaftliche Produkte und vertiefte interregionale Arbeitsteilung durch städtisches Wachstum, steigende Nachfrage nach Grundnahrungsmitteln und handelstechnische Innovationen (Adam Smith Wachstum).
- Die institutionelle Transformation vermutet Ulrich Pfister nicht als Ergebnis der Marktentwicklung, sondern als Resultat der Transformation des Staates von einem Domänen- zu einem Steuerstaat. Finanzwirtschaft und die Erzeugung staatlicher Normen hätten sich grundlegend verändert. Die Entwicklung der Infrastruktur habe sich zwischen 1815 und 1870 als Motor dieses Prozesses erwiesen – in Verbindung mit wegfallenden Binnenzöllen.
- Die Zunahme der Bevölkerung habe eine doppelt positive Wirkung gehabt: Ausweitung des Arbeitsangebots und kürzer Wege zwischen den Siedlungen mit Förderung der Diffusion von Innovationen (Boserupsches Wachstum).
Der Beitrag schließt mit dem Urteil: „Wie genau die treibenden Kräfte auf den Wandel von Wachstumsregimes wirkten und wie sie sich gegenseitig verhielten, harrt in den meisten Fällen noch weiterer Forschung.“ (S. 63)
Wir können an dieser Stelle festhalten, dass die Produktion für Konsumenten im Aus- und Inland eine herausragende Triebkraft war, die wiederum mit einer Vielzahl unternehmerischer Innovationen einherging.
Dezentrale, regionale Wachstumskräfte
Marcel Boldorf, Lyon, befasst sich mit „Deutschlands Industrialisierung als regionaler Transformationsprozess: Plädoyer für eine Vielfalt der Wirkungskräfte“ (65-84)
Der Aufsatz unternimmt eine mehrdimensionale Erklärung der deutschen Industrialisierung, die von Brüchen und Krisen genauso geprägt gewesen sei wie von einer hohen Dynamik und zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse führte
Von der regulierten Nullsummenwirtschaft der vorindustriellen Welt unterschied sich der Fernhandel genauso wie die unregulierten Jahrmärkte von den städtischen Märkten. In der freien Sphäre des Fernhandels hätten Kaufleute nach und nach schriftliche Rechnungsführung und ein ausgearbeitetes Buchführungssystem entwickelt, zudem mit Handelsmarken Produkte vermarktet (trade marks) und ein Verständnis für Wettbewerb erlangt.
In den Stadtwirtschaften kamen diese Neuerungen allmählich an und trafen mit technischen Neuerungen zusammen, so Marcel Boldorf. Dort hätten sich Berufen ausdifferenziert. Kompetenzzentren und mit ihnen neues Wissen sei entstanden, das sich entlang der Handelsrouten verbreitet habe.
Die starke Trennung zwischen ländlicher und städtischer Produktion habe sich im 18. Jahrhundert sukzessive aufgelöst. Teil dessen war nicht nur die Duldung, sondern die Förderung gewerblicher Tätigkeiten durch Grundherren, um neue Einnahmequellen zu erschließen, wie Marcel Boldorf darlegt. Neue Unternehmer seien entstanden, insbesondere die Verleger als Bindeglied zwischen kleinen Produzenten und Fernhandel: „Die Verleger vereinigten in ihrer Person mehrere Fähigkeiten, die im frühen Industriezeitalter von Bedeutung waren: Markt- und Profitorientierung, Kenntnisse der Kapitalrechnung, Erfahrungen mit den Produktionsmethoden und der arbeitsteiligen Produktion.“ (S. 67) Dementsprechend förderten sie die Produktivität, trieben die Arbeitsteilung voran, verschärften die Produktkontrolle. Daraus konnten sich industrielle Unternehmer entwickeln. Zwischen 1800 und 1913 stammten 85 der westfälischen Textilindustriellen aus Kaufmanns-, Verleger- und Fabrikfamilien, so der Lyoner Sozial- und Wirtschaftshistoriker.
Der Staat machte den Weg frei
Auch Marcel Boldorf sieht in staatlichen Reformen wesentliche Bedingungen für die Entfaltung der kapitalistischen Kräfte. Institutionelle Reformen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätten die Kosten des Wirtschaftens reduziert und neue Handlungsspielräume geschaffen. Dazu zählen Agrarreformen, die Aufhebung der Zunftverfassung und die Bildung eines einheitlichen Wirtschaftsraums. Heute würde man das wohl echte Deregulierung nennen: Viele Wettbewerb beschränkende Institutionen fielen weg. Für persönliche Freizügigkeit, Mobilität und berufliche Flexibilität hätte die Bauernbefreiung in Preußen 1807 gesorgt. Die nächste Wachstumsphase wurde von der Schwerindustrialisierung mit der Eisenbahn als Leitsektor geführt.
Zugleich plädiert Boldorf dafür, die Leichtindustrialisierung nicht zu unterschlagen genauso wie die regionale Transformation, die insbesondere vom Textilsektor getragen worden sei. Thematisiert werden u.a. Chemnitz, das in Sachsen als Industriestadt ein Powerhouse mit dem Beinamen „Manchester Deutschlands“ bildete. Die sächsische Baumwollindustrie habe als Motor der regionalen Transformation gewirkt. Zudem hätten Rübenzuckerhersteller während der Kontinentalsperre einen ersten Aufschwung erfahren. Sie seien überdies die Pioniere des Aktienwesens bereits um 1800 gewesen. Die Magedeburger Börde konnte ihre Führungsposition in der Zuckerherstellung bis 1860 sogar noch aus auf zwei Drittel der gesamten deutschen Zuckerherstellung ausbauen. Das habe wiederum den Maschinenbau nach sich gezogen. Halle sei eine von vielen Industriedistrikten gewesen, in denen sich Know-how und Do-how verdichteten.
Wir können an dieser Stelle die spontane, ungeplante Entwicklung der Transformation der Wirtschaft hervorheben. Die unsichtbare Hand konnte, von ihren feudalistischen Fesseln befreit, die Entstehung des Massenwohlstands dirigieren.
Literatur: Ingo Köhler, Eva-Maria Roelevink (Hg.): Transformative Moderne: Struktur, Prozess und Handeln in der Wirtschaft. Festschrift für Dieter Ziegler zum 65. Geburtstag, (Untersuchungen zur Wirtschaft-, Sozial- und Technikgeschichte Bd. 31), Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte e.V., Dortmund 2021, 527 S., 39,90 €.
Siehe bei FFG zum Thema bereits Moderner Kapitalismus in wirtschaftshistorischen Perspektiven und Deutschland 1871: Reichsgründung und wirtschaftliche Entwicklung.